Leserbrief

Leserbrief „Meine Meinung“ zu Beate Böhlen zur Nazi-Zeit in Baden-Baden: „Wir brauchen unbedingt eine Aufarbeitung dieser Zeit“ - Wehrmacht paradox: Gynäkologe als Stabsarzt?

Baden-Baden, 17.09.2018, Leserbrief In einem Leserbrief an die Redaktion nimmt goodnews4-Leserin Gertrud Mayer Stellung zu dem goodnews4-Bericht Beate Böhlen zur Nazi-Zeit in Baden-Baden: «Wir brauchen unbedingt eine Aufarbeitung dieser Zeit» − Zum BT-Parkplatz: «Müssen die Würde des Ortes wiederherstellen».

Ertl, Ottoheinz Lübeck, Stabsarzt, Körnerstraße 16 − so die letzte Eintragung im Meldeamt der Stadt Lübeck. Dann gähnt über ihm eine 10-jährige Lücke im 3. Deutschen Reich bis in die Bundesrepublik Deutschland.

Zu Beginn des zweiten Weltkrieges zog die Wehrmacht Fachärzte aller Richtungen zum Heeresdienst heran, die beratende Funktionen auf ihren Fachgebieten ausübten. Die Beratenden Ärzte wurden meist mit dem Rang des Stabsarztes oder des Oberstabsarztes eingezogen. Der Stabsarzt entspricht militärisch dem Hauptmann. Sofern es die kriegstaktische Lage zuließ, sollten die Beratenden Ärzte auch als Lehrer fungieren und sich der Aus- und Fortbildung der Sanitätsoffiziere widmen. Also alles in allem: sie mussten nicht an die Front, sondern hatten einen Schreibtischposten, so auch der Stabsarzt Ertl.

Die Historie schickt uns in die Jahre 1933, 1935 und 1936, als das «Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses» erlassen und wieder verschärft wurde. «§ 1 (1) Wer erkrankt ist, kann durch chirurgischen Eingriff unfruchtbar (sterilisiert) werden... [Wie z.B. 8. bei] … schwerer erblicher körperliche Missbildung.»

Das führt direkt zur Dissertation von Otto Heinz Ertl an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, vorgelegt und für gut befunden von Prof. Dr. Hans Runge. Der Inhalt dieses Quartheftchens mit Umfang von 11 Seiten entspricht sowohl dem Gesetz als auch den Ansichten seines Doktorvaters. Eine Anmerkung: in den Ostgebieten wurde das obige Gesetz am 24. Dezember 1941 eingeführt.

Die Informationen über Hans Runge sind reichhaltig in der (medizinisch-) wissenschaftlichen Literatur. Er wurde als Sohn des Pastors Karl Runge 1897 in Neustrelitz geboren, schon der Großvater war Pastor. Er studierte Medizin in Tübingen, Leipzig und Rostock, wurde 1920 promoviert, 1924 habilitierte er sich in Kiel, wurde Ordinarius in Greifswald und folgte 1934 dem Ruf nach Heidelberg.

Die besondere Stellung der Gynäkologie für die Ausführung der nationalsozialistischen Ideologie forderte die genaue Charakterisierung ihrer ausübenden Personen geradezu heraus Das o.a. 1933 verabschiedete «Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses» legte seine Durchführung fast ausschließlich in die Hände der Gynäkologen. Sowohl die positive als auch die negative Eugenik beschäftigte fortan den Klinikalltag der Mediziner.

Runges politische Korrektheit im Sinne des Nationalsozialismus: der Eintritt in die NSDAP mit beinahe dem gesamten Personal der Universitätsklinik Greifswald, seine Tätigkeit als Vertrauensdozent der Studentenschaft waren schließlich Beweis genug für einen guten Nationalsozialisten und ebensolchen Mediziner. Nach seinem ersten Jahr an der Frauenklinik in Heidelberg berichtete Runge schon von ca. 600 Sterilisationen, die er im Sinne der Eugenik vollbracht hatte. Viele seiner Assistenten promovierten über die Ergebnisse der Zwangssterilisationen, habilitierten sich sogar. Alle diese Arbeiten waren von Runge initiiert und zumindest betreut worden. Das Direktorat des aktiven Nationalsozialisten Hans Runge war ab 1934 überwiegend der Forschung an der positiven Eugenik gewidmet, während die Praxis durch massenhafte eugenische Sterilisationen gekennzeichnet war.

Nach der Machtergreifung war Heidelberg das ideologische Zentrum der rassisch-biologischen Staatstheorie und auch führend in der Umsetzung der Kinder-«Euthanasie». In diesem Umfeld bewegte sich offensichtlich Ottoheinz Ertl und entschwand mit seiner Biographie irgendwie in einer großen Leere, die sich mit Hilfe der Archive über diese Zeit sicher bald füllen lassen.

Warum breitet seine Ehefrau Eva Ertl, geb. Hambruch darüber den Mantel des Schweigens? «Die im Dunkeln sieht man nicht!» Es wäre ihrem Ehemann sicher ähnlich wie Hans Runge ergangen. Nach dem Krieg war Hans Runge nur kurzzeitig seines Dienstes enthoben, bis er durch das Spruchkammerverfahren schließlich als «Mitläufer» eingestuft wurde und dann bis 1964 hoch geehrt die leitende Position des Klinikdirektor innehatte.

1950 taucht Dr. Ertl wieder auf: wohnhaft in Baden-Baden, Ebersteinstraße 28, als Dr. Ottoheinz Ertl Medizinalrat, praktischer Arzt. Die Adresse hat sich durch Namensänderung in Lilienmattstraße gewandelt, in der auch die als Josefinenheim bekannte DRK Klinik lag. Aber wieso praktischer Arzt und nicht wie ausgebildet Gynäkologe? Wieso auf einmal Medizinalrat?

Der Medizinalrat ist ein Medizinal-Beamter, ein beamteter Arzt im Öffentlichen(!) Gesundheitsdienst. Er muss im Besitz der medizinischen Doktorwürde sein (das ist Ertl) und nach mehrjähriger praktisch-ärztlicher Tätigkeit eine staats-ärztliche Prüfung abgelegt haben. Wie und wo? Etwa mit Professor Runge, bei der Säuberung jüdischer Kinder: «Entrechtet / geflohen / ermordet» oder bei seinen Musterungen zur Wehrtauglichkeit für die Front Hitlers, damit es wieder genügend «Kanonenfutter» gab?

Medizinalbeamte sind von der Ausübung kassenärztlicher Tätigkeit ausgeschlossen, können jedoch als Vertrauensärzte und auch privat ärztlich tätig sein. Im Licht bleibt einzig die Bezeichnung STABSARZT. Dazu Thomas Mann, «Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull», in der viel gerühmten Musterungsszene in der Felix Krull vor dem Kommissions-Tisch steht: «Treten sie näher heran!» sagt der Stabsarzt. Dann weiter im Verlauf die Anreden des angehenden Rekruten: «Herr Generalarzt, Herr Militärarzt, Herr Oberstabsarzt, Herr Chefarzt, Herr Lazarettkommandant, Herr Bataillons-Medicus, Herr Kriegsarzt.»

Über diese literarische Karikatur habe ich früher gelacht − sie war einfach köstlich. Aber heute? Nachdem man mehr über einen STABSARZT und sein medizinisches Umfeld erfahren hat, bleibt das Lachen im Halse stecken − oder?

Gertrud Mayer
Baden-Baden


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