Sommerfestspiele 2ß18

Russischer Sommer im Festspielhaus: „Adriana Lecouvreur“ und Daniil Trifonov – Das alles durch Valery Gergiev!

Russischer Sommer im Festspielhaus: „Adriana Lecouvreur“ und Daniil Trifonov – Das alles durch Valery Gergiev!
"Adriana Lecouvreur" Foto: Andrea Kremper

Baden-Baden, 23.07.2018, Bericht: Inga Dönges Die heurigen Sommerfestspiele boten den bedenkenswerten Vergleich zwischen italienischem Verismo und dem zeitgleichen russischen Ausklang der Romantik, zu neuen Ufern aufbrechend.

Es gab am Freitag, 20. Juli 2018, «Adriana Lecouvreur», Commedia-dramma, Oper in 4 Akten von Francesco Cilea (1866 – 1930). Das Libretto basiert auf dem Schauspiel von Eugène Scribe (1849). Die Oper wurde 1902 in Mailand uraufgeführt, Premiere dieser Inszenierung war 2017 im Mariinsky Theater in St. Petersburg.

Was ist Verismo (ital. Vero = wahrhaftig): die naturalistische Strömung in den Künsten, hier in der Musik in den Jahrzehnten um 1900. Gesellschaftskritische Züge verbanden sich mit der Wahrhaftigkeitstendenz und der Natürlichkeit auf der Bühne. Zu den Komponisten gehörte auch Francesco Cilea. In eine Juristenfamilie hineingeboren, wurde er zum Studium der Jurisprudenz nach Neapel geschickt. Dort fand er die Liebe und den Zugang zur Musik mit seinen Studiengenossen Leoncavallo und Giordano. Er komponierte viel Klavier- und Kammermusik und blieb seiner pädagogischen Aufgabe am Konservatorium treu.

Der Untertitel dieser Oper bezeichnet den Kontrast von komischer und tragischer Handlung. Die Mitglieder der Comédie-Française bis hin zum Abbé von Chazeuil sind vermeintliche Kunstliebhaber und Mäzene und karikierend charakterisiert, während die drei Protagonisten Adriana, Maurizio (Max von Sachsen) und die Fürstin von Bouillon den Fortgang der tragischen Handlung führen. Diese ist vielseitig und verzwickt, basiert auf einer wahren Begebenheit und lässt sich en détail kaum erzählen − es hieße, den gordischen Knoten durchschlagen.

Die Oper beginnt 1730 hinter den Kulissen der Comédie-Française. Die Schauspielerinnen, Adriana und ihre Konkurrentin Duclos treten gemeinsam in demselben Stück auf, betreut vom Inspizienten Michonnet. Dieser gesteht Adriana kurz vor der Vorstellung seine heimliche Liebe zu ihr. Maurizio kommt als einfacher Soldat gekleidet, Adriana muss auf die Bühne und schenkt ihm einen Veilchenstrauß. Ein fingierter Liebesbrief der Fürstin von Bouillon führt zu dramatischen Verwicklungen und Intrigen auf dem fürstlichen Ball. Aus Liebe und Enttäuschung erkrankt Adriana. Vermeintlich im Namen von Maurizio, des Grafen von Sachsen, wird ein Kästchen abgegeben, das den verwelkten Veilchenstrauß enthält. Adriana küsst die Blumen, wirft den Strauß ins Feuer, bricht zusammen und stirbt. Der treue Michonnet eilt herbei und erkennt, dass die Veilchen von der fürstlichen Rivalin und vergiftet waren.

Die Inszenierung und das Bühnenbild von Isabelle Partiot-Pieri war klassisch und sensibel geführt. Theater im Theater: die Bühnenvorhänge mit Masken bestückt, die den Ausdruck von Totenköpfen hatten. Die Drehbühne wurde geschickt eingesetzt und mit bemalten Vorhängen das Bühnenbild verändert. Das Ganze spielte in der vorgegebenen Zeit 1730, begann aber mit einem Video. Man sah, wie Adriana würdelos verscharrt wurde, und der Ring schloss sich mit ihrem Tod auf der Bühne zum Schluss der Oper.

Die Sänger: erst das gesungene Wort deutet den wahren Gehalt des Textes aus. Sie tragen den Affekt, auch wenn sie oftmals im Orchester eine Verdoppelung erfahren. Es gibt den Protagonisten zugewiesene Personalmotive, so wird z.B. Adriana u.a. ein harmonisch mit dem Tristan-Akkord identisches Arpeggio zugeordnet. Valery Gergiev und sein Mariinsky Orchester waren wie immer phänomenal als Begleiter und als treibende Kraft dieser Musik. Es gab alles: vom Pianissimo bis zum Ausbruch voller Kraft und Dramatik.

Die Stimmwunder der Sänger: es begann zwei Tage vor der Premiere mit der krankheitsbedingten Absage von Anna Netrebko und ihrem Ehemann Yusif Eyvazov. Es sprangen ein Tatiana Serjan als Adriana und Migran Agadzhanyan als Maurizio. Damit gingen für das Publikum Sterne am Sopran- und Tenor-Himmel auf. Tatiana Serjan wurde in St. Petersburg geboren und begann ihre musikalische Laufbahn mit dem Studium des Hammerklaviers. Dann setzte sie ihre Studien und Gesangsausbildung am St. Petersburger Konservatorium und in Turin fort. 2002 debütierte sie als Lady Macbeth und ging ihren Weg stetig unter der Ägide des Dirigenten Riccardo Muti und des Regisseurs David Pountney fort. Heute ist sie als perfekter jugendlich-dramatischer Sopran eine sensationelle Ausnahme: schön, kraftvoll, dunkler dramatischer Tiefe und attackierenden Höhen. Das alles macht sie zum Zentrum der Bühne und wird ergänzt mit dem Tenor Migran Agadzhanyan.

Migran Agadzhanyan wurde in eine armenische Musikerfamilie geboren, studierte in Rostov am Don Klavier und gründete als Dirigent in St. Petersburg ein Jugendorchester. Seine Ausnahme-Tenorstimme wurde ausgebildet bei Renata Scotto und Giuseppe Sabatini. Aus dem «Wunderkind» wurde ein jugendlich-dramatischer Heldentenor. Es ist eine Jahrhundertstimme, wie sie selten vorkommt. Die Zuhörer dürfen sich glücklich schätzen, das gehört und erlebt zu haben. So wurde aus einer Absage «großer Namen» eine Sternstunde der Oper und ein neuer Sopran- und Tenor-Himmel geöffnet.

Die anderen Sänger verblassten nicht als Comprimarios. Im Gegenteil: es waren außergewöhnliche Stimmen, die alle zu einem prächtigen Ensemble wurden. Michonnet − Alexei Markov, die Fürstin von Bouillon − Ekaterina Semenchuk und viele mehr. Ein Opernhaus darf sich glücklich schätzen, ein solches Reservoir an Sängern und einen vorzüglichen Chor zu haben. Der Beifall war groß und dankbar für die Aufführung der selten gespielten «Adriana Lecouvreur» von Francesco Cilea.

Bild Manolo Press/Michael Bode Tags darauf der nächste Höhepunkt der russischen Sommerfestspiele: Symphonisches von Alexander Skrjabin (1872 – 1915) und Sergey Rachmaninow (1873 – 1943). Während die Oper von 1902 am Vorabend ein neues Zeitalter vorbereitete, blieben die russischen Komponisten symphonisch in einer Umbruchsituation: noch dem Alten verbunden, etwas unentschlossen zum Aufbruch in eine Neue Zeit, die schon anklingt. Aber noch nicht richtig angekommen ist. Trotzdem war der Hörgenuß groß.

Daniil Trifonov und seine künstlerische Entwicklung zu hören und am Flügel zu sehen waren eine Ausnahmeleistung, die das Festspielhaus und Valery Gergiev mit dem Mariinsky Orchester seit Jahren ermöglichen. Die Orchestermitglieder waren zu einem großen Teil sehr jung, spielten aber wie die «Alten». Eine Nachwuchsförderung, wie sie vorbildlicher nicht sein könnte.

Valery Gergiev ist eben Valery Gergiev, einer der Großen, dem die Musikgeschichte sicher einmal einen herausragenden Platz einräumen wird. Und Daniil Trifonov, der mit der Musik, der Tastatur seines Flügels zu einer in sich geschlossenen Einheit verschmilzt. Er sitzt nicht mehr so gebeugt über den Tasten, steht manchmal zum Spielen auf. Seine Spieltechnik ist faszinierend und unnachahmlich. Die Hände liegen flach und die Beweglichkeit des Spiels kommt aus den Fingergrundgelenken. Der „junge Meister“ der Klaviermusik wurde in Nischni Nowgorod geboren, studierte in Moskau, dann Klavier und Komposition am Cleveland Institute of Music, in der Folge mit bedeutenden Preisen…

Der Anfang war das Konzert für Klavier und Orchester fis-Moll op. 20 von Alexander Skrjabin, entstanden 1897. Skrjabin wurde 1872 in Moskau geboren, besuchte etliche Jahre die Kadettenschule und studierte dann am Konservatorium in Moskau. Er reiste als Konzertpianist und wurde 1898 in Moskau Klavierlehrer, wo er 1915 starb. In den Anfangsjahren war sein kompositorisches Schaffen teilweise von der deutschen Romantik beeinflusst, bis er die funktionale Tonalität aufgab. Das Klavierkonzert – erstes Orchesterstück des Komponisten − stand noch im Schatten von Fréderic Chopin, aber er entwickelte sich weiter zu einem der ersten Repräsentanten der «Neuen Musik».

Die drei Sätze des Klavierkonzertes von 1897 stellen den gearbeiteten Klavierpart in den Vordergrund. Dem Orchester fällt eine begleitende Rolle zu Der Mittelsatz ist der eindrucksvollste. Seine vier Variationen jagen mit vehementer Rasanz über die Tasten.

Dann der Schritt zu Sergey Rachmaninow. Er wurde 1873 bei Nowgorod geboren, studierte am Konservatorium in St. Petersburg Klavier, wurde 1893 Klavierlehrer, 1897 Dirigent einer Privatoper in Moskau, dann ab 1904 am Bolschoi Theater. Sein Leben führte ihn dann von Paris über die Schweiz nach New York, 1943 starb er in Beverly Hills.

Gergiev und sein Orchester präsentierten uns die Symphonie Nr. 2 e-Moll op. 27, 4 Sätze, entstanden 1907. Der erste Satz Largo-Allegro moderato ist breit ausladend mit seiner Melodie und bildet die Quelle aller Themen und Motive des Werkes. Im Scherzo des 2. Satzes wechseln Fröhlichkeit und Trauer ab. Der 3. Satz Adagio ist eine elegische Kantilene, der im 4. Satz Allegro vivace zündende Freudenausbrüche folgen. Das Orchester bietet alles: Soli der Holzbläser und des Blechs, gewaltige Tuttistellen und vieles mehr. Gergiev dirigierte ohne Podest, geht zwischen den Streichern hin und her. Der Schluss dann bombastisch, wie ein Aufbruch in die Neue Zeit, und das in einer Stretta.

Es blieb weiter bei Rachmaninow − Konzert für Klavier und Orchester Nr. 1 fis-Moll op.1, 3 Sätze, entstanden 1891, in der letzten Fassung von 1917/19. Trifonov am Flügel, Gergiev mit einem Zahnstocher an Stelle des Taktstocks! Der 1. Satz Vivace-Moderato setzt kraftvoll mit dem Thema ein und entwickelt sich mit jugendlicher Frische zu der groß angelegten Solokadenz. Der 2. Satz Andante hat eine ausdrucksstarke Harmonik, die dem Zeitgeschmack entsprach. Das Finale Allegro vivace ist turbulent, wenn es auch einige ruhige besinnliche Stellen gibt. Hier schließt sich der Programm-Kreis mit der Tonart fis-Moll und die Zugabe tut ein Übriges: romantischer Robert Schumann, Bunte Blätter op. 99, 1 – 4.

Es bleiben musikalisches Glück und Nachdenklichkeit: Beide Abende und ihre Komponisten waren zeitgleich, empfanden aber in ihren Kompositionen sehr verschieden. Eine exzellente Auswahl, fernab der ausgetretenen Wege und die Neuentdeckung der beiden großen Sänger Tatiana Serjan und Migran Agadzhanyan, deren Stimmen sicher weiter die Opernwelt revolutionieren werden. Daniil Trifonov wieder zu hören und seine meisterliche Entwicklung zu erleben. Fürwahr: das waren russische Sommerfestspiele − Chapeau!


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