Leserbrief

Leserbrief „Meine Meinung“ – Umgang mit coronabedingtem Schwarz-Weiß-Denken

Baden-Baden, 04.12.2021, Leserbrief In einem Leserbrief an die Redaktion nimmt goodnews4-Leserin Bine Walter Stellung.

Grundsätzlich bestimmen oder formen sich unsere Grundhaltungen und Überzeugungen davon wie die Welt und man selbst ist, durch unser Denken, sowie uns begegnet worden ist.

Unsere Art zu denken und Informationen zu verarbeiten, zeigt die deutliche Tendenz eigene vorhandene Ansichten zu bestätigen, und besteht auch aus einer deutenden und interpretierenden Aktivität.

Die Wirklichkeit ist für uns nicht direkt zugänglich und verständlich, vielmehr vereinfachen wir die Komplexität vorhandener widersprüchlicher Informationen, je nach vorhandener Haltung, Ansicht d.h. bisherigen Vorerfahrungen. Da die Informationsverarbeitung unseres Geistes sehr einseitig und selektiv ist, überbewerten wir grundsätzlich Informationen, die unseren Überzeugungen entsprechen und blenden mit unseren Überzeugungen unvereinbare Informationen aus und/oder verzerren diese.

Die vorhandenen Überzeugungen wie die Welt, die anderen, das Umfeld, die Gemeinschaft, Politik, oder man selbst ist, kann man auch als «innere Landkarte» bezeichnen.

Es ist nicht möglich eine Landkarte (unsere Überzeugungen) auf ihre «Wahrheit» zu überprüfen, da die Wirklichkeit nicht direkt begreifbar und zugänglich ist, und hochkomplex, widersprüchlich, multidimensional und durch den Verstand nicht hinreichend zu erfassen, oder gar zu messen ist.

Denken oder Überzeugungen, innere Landkarten können folglich auch nicht als «richtig» oder «falsch» beurteilt werden, da es kein absolutes Beurteilungskriterium gibt (dies wäre nur möglich wenn die Wirklichkeit durch unser Denken direkt zugänglich wäre).

Grundsätzlich stellt jede Landkarte und jedes Denken eine unzulängliche Vereinfachung einer nichtgreifbaren Komplexität dar, die wir Wirklichkeit nennen. Die Vereinfachung unseres Denkens und unserer inneren Überzeugungen strukturiert und reduziert die Komplexität der widersprüchlichen Informationen.

Also Denken und Überzeugungen sind nicht gleich die Wirklichkeit, sondern alle reduktionistisch und fehlerhaft und können niemals die Wirklichkeit adäquat abbilden.

Diese Erkenntnis wird gerne verdrängt.

Wenn unser reduziertes Denken und unsere stets fehlerhaften Ansichten davon überzeugt sind, die Wirklichkeit abzubilden, wird unser Denken eine Gefahr für uns und andere und bekommt einen gewalttätigen Charakter. Hierdurch entstehen verhärtete Fronten, Konflikte, Glaubenskriege, Dramen, Leiden und eine psychologische Täter-Opferdynamik; d.h. man selbst erlebt sich als Opfer, wird vom anderen aber als Täter empfunden.

Die Coronapandemie ruft kollektiv verschiedene Täter-Opfer-Dynamiken hervor, bei der sich mache Impfbefürworter und Impfgegner durch den jeweils anderen bedroht fühlen und beide Seiten davon überzeugt sind, dass «es so ist, wie sie denken.»

Ein Lösungsansatz besteht darin, sich darüber klar zu werden, dass jede Position nur ein verzerrter Ausschnitt und eine unzulängliche Reduktion einer nicht zugänglichen komplexen und widersprüchlichen Wirklichkeit darstellt, die niemand verstehen oder begreifen kann.

 

Demut und Bescheidenheit gegenüber dem, was Denken und innere Landkarten können.. - und nicht können. Sie können nicht die Wirklichkeit «so wie sie ist» abbilden und verstehen.

Alle Ansichten sind subjektiv, verzerrt und stets fehlerhaft und unvollkommen.

Es gibt keine «richtige» oder «falsche» Position. Jede Sichtweise enthält selektive Splitter aus dem Topf der großen Suppe der Wirklichkeit.

Wie in der Geschichte, in der sich mehrere Blinde darüber streiten, wie der Elefant aussieht, bei dem jeder Blinde gerade ein anderes Körperteil des Elefanten spürt und abtastet. Jeder Blinde beschreibt, wie sein Elefant aussieht. Jeder ist überzeugt von der Wahrheit seines abgetasteten Ausschnittes. Was die Blinden nicht tun, ist ihre Ausschnitte zu ergänzen und zusammenzutragen.

Wenn wir es schaffen, Bescheidenheit zu kultivieren, eine kühle Distanz und Abstand zu der Relativität und Beschränktheit unserer Ansichten, unseres Denkens und unserer Fähigkeit zu «wissen», können wir Andersdenkende als Vielfalt mehr wertschätzen und müssen uns nicht von anderem Denken bedroht fühlen. Die Kultivierung des Bewusstseins unserer Wissens- und Verstandesblindheit kann uns Neugier für völlig andere Arten die Wirklichkeit zu sehen schenken. Die Förderung und Kultivierung der Artenvielfalt von Überzeugungen und Weisen zu denken, ist ein Zeichen einer offenen und demokratischen Gesellschaft. Die Kultivierung geistiger Artenvielfalt fördert ein tolerantes und stabiles Ökosystem in unserer Gesellschaft.

Bine Walter
Dipl. Psych., M. Sc. Rechtspsychologie
Baden-Baden


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