Kommentar von Inga Dönges

Festspielhaus Baden-Baden – Mariinsky Ballett tanzt „Jewels“ von George Balanchine – „Der Tanz ist eine Frau“

Festspielhaus Baden-Baden – Mariinsky Ballett tanzt „Jewels“ von George Balanchine – „Der Tanz ist eine Frau“
Der erste Akt „Emeralds“ zu Gabriel Fauré aus „Pelléas et Mélisande“ und „Shylock“. Foto: Natasha Razina

Bild Inga Dönges Baden-Baden, 30.12.2019, Kommentar: Inga Dönges «Ein Mann hat es gern, Partner zu sein, ein Beistand, ein Chevalier. Das ist’s, warum Ballett existiert.» Balanchine lebte dieses Motto auch selbst und war mit vier seiner bildschönen, langbeinigen Tänzerinnen verheiratet – nacheinander.

Er wurde 1904 als Sohn georgischer Eltern in St. Petersburg geboren, Vater und Bruder waren Komponisten. Im Alter von neun Jahren begann er dort seine Ausbildung an der kaiserlichen Ballettschule und arbeitete gleichzeitig als Choreograph, fiel aber 1923 dem politischen Regime negativ auf durch seine experimentellen Stücke.

1924 kehrt er von einer Westeuropa-Tournee nicht nach Russland zurück. In London fiel er dem Impresario Sergei Diaghilew auf. Balanchine wurde in die ‚Ballets Russes‘ engagiert, später 1933 in Monte Carlo gründete er selbst eine Kompanie. Er lernte Lincoln Kirstein kennen, der weder Tänzer noch Musiker war und in den frühen 30-er Jahren seine Liebe zum Ballett entdeckte. Für ihn war Balanchine bestimmt, das amerikanische Ballett zu begründen und zu revolutionieren. Amerika war zwischen 1939 und 1945 im zweiten Weltkrieg kein Kriegsschauplatz und konnte sich weiterentwickeln, ohne dass im Jahr 1939 eine Zäsur entstand.

1934 wurde Balanchine auf Einladung von Lincoln Kirstein Leiter der «School of American Ballet» in New York, aus der später das «New York City Ballet» hervorging. Eine neue Entwicklung: zuerst bestand die Schule, dann die Kompanie. Kirstein förderte Balanchines Kreativität und ließ ihm völlige künstlerische Freiheit. Es entstand ein neuer klassischer Tanzstil, der das russische Erbe «mit dem athletischen Schwung der kühlen amerikanischen Jugend vereint. So schafft man neue Traditionen». Es entstand der neoklassische Tanz, der den klassischen Tanz durch zusätzliche Stellungen und Bewegungen, eckige und winklige, erweiterte.

Das alles und noch mehr ist in «Jewels» zu sehen. Es ist abstraktes Ballett, hat keine Handlung und ist doch erfüllt vom prallen Leben und Tanz! «Musik ist der Boden, auf dem wir tanzen.» Bei allen Tänzern wurden Fähigkeit und Kondition vorausgesetzt: Kraft, Schnelligkeit und Präzision. Die Idee zur Choreographie hat eine (märchenhafte?) Geschichte: an einem dunklen Wintertag bei einem Spaziergang über die New Yorker 5th Avenue glitzerten die Juwelen in einer Auslage und zogen George Balanchine in ihren Bann. Er hatte nicht die Idee, diese käuflich zu erwerben, sondern sie waren die Initialzündung für «Jewels», das 1967 von «New York City Ballet» in New York uraufgeführt wurde. Bühne, Kostüme, Licht wurden vom Mariinsky Ballett liebevoll im Detail aufgefrischt und im Oktober 1999 in St. Petersburg als Premiere aufgeführt.

Die Bühne – ein leerer Raum, der sich füllt mit Ballett, das für Balanchine durch und durch konkret ist, «weil man Männer und Frauen sieht, die sich rascher und besser bewegen und besser aussehen als die meisten Menschen. Gibt es etwas Konkreteres?» Ob sich George Balanchine und Peter Brook (geb. 1925 in London) im New York der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts begegnet sind? Beide füllen den Bühnenraum, und man schaut durch ein Vergrößerungsglas und sieht, hört die Musik und assoziiert mit aller gegebenen Phantasie. Können Tanz und Musik mehr erreichen?

Der erste Akt «Emeralds» zu Gabriel Fauré (1845 - 1925) aus «Pelléas et Mélisande» und «Shylock», ein klarer Aufbau, verhaltenes Espressivo und transparenter Klang, Neoklassik der französischen Musik. Die Bühne leer, über ihr schwebt ein Collier aus Edelsteinen, smaragdgrün beleuchtet. So auch die Farbe der Kostüme, die Tänzerinnen mit etwas längerem Tutu bis zu den Knien. Der Smaragd repräsentierte im Glauben der alten Ägypter die Fruchtbarkeit und die Wiedergeburt. Die Römer sahen durch ihn Sprache und Körper der Person erhöht. Die Choreographie wechselte im nahtlosen Übergang vom Corps de ballet zu Soli, Pas de deux und Pas de trois. Es waren keine «Nummern», die getanzt wurden, sondern ein Ineinandergleiten. Auffällig die neue Position des ‚port de bras‘ (Armhaltung und Armführung), sie drückt weitgehend Stil, Eleganz und Gefühl aus. Hier die Paare: Daria Ionova und Maxim Zyusin, Anastasia Kolegova und Roman Belyakov.

Bild Rubies - Natasha Razina

“Rubies“. Foto: Natasha Razina

Der zweite Akt «Rubies», die Rubine – die Steine des Bühnencolliers färben sich rot. Die Tänzer nehmen Aufstellung in einer geraden Linie, ihre Kostüme sind rot mit kurzen plissierten Röckchen und geben so eine Variation von Mustern im Vordergrund. Die Tänzer nehmen eine einheitliche Stellung ein. Balanchines Tänzerinnen sind langbeinig und gertenschlank, das Ideal des 20. Jahrhunderts. Er bevorzugt die ausgreifende Bewegung und die große Linie, seine Arabesken (Standbein gestreckt, Spielbein nach hinten) sind erstaunlich hoch. Hier die beiden neuen Positionen des neoklassischen Tanzes. Ein ‚Plié‘ (Beugen eines oder beider Knie) erlaubt nun das Öffnen der Knie, eine Revolution. So entsteht eine gespreizte Bewegung, einfach amerikanisch frech und ‚sexy‘. Renata Shakirova und Kimin Kim tanzen den Pas de deux, Kim dreht im Solo den Sprung wohl zweimal und – linksherum: sensationell! Das alles zum Capriccio für Klavier und Orchester von Igor Strawinsky (1882 – 1971), als Solistin Lyudmila Sveshnikova. Die Tänzer konnten ihrem Spiel vertrauen. Was durfte man sich beim Tanz der «Rubine» denken? Im Orient wird der Rubin als «Tropfen des Blutes aus dem Herzen von Mutter Erde» bezeichnet, im Mittelalter als der Stein der Prophezeiungen. Hier also des neuen Tanzes, der nach Serge Lifar sich «zwischen Himmel und Erde» bewegt.

Bild Diamonds. Natasha Razina

“Diamonds“. Foto: Natasha Razina

Der dritte Teil krönt das Ganze mit «Diamonds» zur Musik von Peter Tschaikowsky (1840 – 1893), 3. Symphonie in D-Dur, beginnend mit dem 2. Satz, einer Tanzweise «Alla tedesca», ein schwerblütiges Andante elegiaco und einem Scherzo – die Steine des Bühnencolliers färben sich strahlend weiß. Man könnte den antiken Römern und Griechen glauben, dass Diamanten Tränen der Götter oder Sternesplitter seien. Sie machen die Musik sichtbar, stellen das ‚Gute, Schöne und Wahre‘ dar, das heutigen Zeiten ins Gedächtnis zurückgerufen werden muss. Es tanzen Viktoria Tereshkina und Xander Parish als Hommage an das ‚alte‘ russische Ballett von Marius Petipas. Die artistischen Soli im gleitenden ‚Legato‘ getanzt, die innigen Pas de deux erinnern an «Schwanensee», an Odette/Odile. Es entstehen die für Balanchine typischen geometrischen Formen und Linien. Den Schluss ergänzen sechzehn Paare und füllen die ‚leere Bühne‘ zum Raum – eine Hymne an den Tanz. Das alles unterstreicht das Mariinsky Orchester mit seinem amerikanischen Dirigenten Gavriel Heine, der den musikalischen Boden für die Tänzer bereitet, mit ihnen atmet und «tanzt», so dass einfach alles gelingt.

George Balanchines Auffassung von Tanz weicht von der Tradition ab. Man muss das Neue schätzen und dazu das Alte kennen. Und heute wird dem Publikum längst eine breite Palette von Tanzrichtungen geboten, die es ohne Balanchine, der bis 1983 lebte, nie gegeben hätte.

Großer Applaus für das Funkeln der Ballett-Juwelen.


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