Musik von Schumann, Chopin und Debussy

Großer Klavierabend mit Hélène Grimaud am 14. Juni 2019 im Festspielhaus Baden-Baden – Frédéric Chopin: „Das Klavier ist mein zweites Ich!“

Großer Klavierabend mit Hélène Grimaud am 14. Juni 2019 im Festspielhaus Baden-Baden – Frédéric Chopin: „Das Klavier ist mein zweites Ich!“
Pianistin Hélène Grimaud. Foto: Mat Hennek

Baden-Baden, 17.06.2019, Bericht: Inga Dönges Hélène Grimaud wurde 1970 in Aix-en-Provence geboren. Sie studierte in ihrer Heimatstadt, in Marseille und am Konservatorium in Paris Klavier. 1987 gelang ihr der Durchbruch beim Festival in Cannes.

Inzwischen tritt sie mit allen großen Orchestern als Solistin auf und wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Diese dürren Sätze zeigen nur den Lebensrahmen. Will man mehr über Hélène Grimaud und ihre außergewöhnliche Persönlichkeit erfahren, liest man ihr autobiografisches Buch «Wolfsonate» und findet einen Schlüssel zu ihrem Phänomen.

Kurz gesagt: bei einem nächtlichen Spaziergang in den USA begegnete sie zufällig der Wölfin Alawa, mit der sie dann eine lebenslange Freundschaft verband. 1997 gründete sie nach einem Studium der Verhaltensforschung in New York das «Wolf Conservation Center», das die Art der Wölfe nicht nur schützt, sondern auch ihrer Besonderheiten dokumentiert und fördert.

Das darf man im Hinterkopf behalten angesichts dieses ungewöhnlichen Programms für einen Klavierabend. Es ist ein Zyklus von Stücken, die übergangslos ohne Pause gespielt werden – ein «Menu» der Romantik, dass sich zu einem Kreis schließt. Es beginnt mit der «Bagatelle I» des ukrainischen Komponisten Valentin Silvestrov (* 1937), quasi als «amuse geule». Ganz leise, pianissimo (ppp), dann in der Mitte mit Crescendo anschwellend (wie eine Bergbesteigung), die Läufe über die Tasten lassen an das Plätschern eines Bergbaches denken, um dann wieder in pianissimo zu enden und überzugehen in die Arabesque Nr. 1 von Claude Debussy (1862 – 1918). Er sieht ihren Ursprung im gregorianischen Gesang, später bei den a-capella-Meistern des 16. und 17. Jahrhunderts. Die Melodik ist schwerelos und schwingend, die einfache Tonfolge erzeugt den neuen Typus der freien Melodie. Die Töne verstehen sich als Musiksprache. Hat der Mensch vor der Sprache gesungen oder einfach gesummt?

Hélène Grimauds Hände fliegen über die Tasten, in vollendeter Legato-Kultur. Ihre «geliebte» linke Hand lässt die Triolen sprudeln und dann wieder in die Ruhe gleiten. Sie nimmt für sich und ihre Musik Hermann Hesses «Glasperlenspiel» als Fundament: «Die Musik beruht auf der Harmonie zwischen Himmel und Erde, auf der Übereinstimmung des Trüben und des Lichten.» Dieser Weg führt weiter über die «Bagatelle II» - Moderato von Valentin Silvestrov, zur «Gnossienne Nr. 4» Lent von Erik Satie (1866 – 1925). Die Pariser Weltausstellung 1889 brachte außereuropäische Musik nach Europa. Satie bezog sich auf die Lehre der Gnosis und komponierte Melodien mit arabischen Stilelementen. Man könnte sie in die Salonmusik einordnen, nehmen sie doch das Neue der Musik von Debussy auf und bringen sie weiter.

Frédéric Chopin «Nocturne Nr. 19 e-Moll op. 72» – Hélène Grimaud: «Ich liebe sie unendlich, die Musik Chopins, vor allem die vollendete Kunst, mit der er der linken Hand [H.G. ist Linkshänderin] am Klavier ihre Unabhängigkeit gegeben hat. Diese ‘Dienerin der rechten Hand’ erhält mit ihm ihr Eigenleben, befreit sich, setzt sich durch. … Chopin erfindet die beidhändige Musik - ein gewaltiges Tor …» durch das Hélène Grimaud geht! Er verlangt «eine schwindelerregende Virtuosität von ihr. Presti, Tarantellen, Sehnsucht, gepeitscht von Wellen und Windungen … er suggeriert das Chaos, indem er Dissonanzen und Wollust wagt, indem er Triller und Terzen verbindet.» Das alles erfüllt ihr Spiel, und sie ist eine Künstlerin des Anschlags. Allerdings nicht von oben mit der «Pranke», sondern wie ihre Wölfe auf Sammetpfoten, bleibt mit den Händen der Tastatur verbunden. Diese spiegeln sich im Flügel, als spiele sie vierhändig mit sich selbst.

In der weiteren Folge zwei Stücke von Erik Satie, dann der Tanz: ein Walzer von Claude Debussy, in dem sie das rubato auskosten darf, eine Mazurka (a-Moll op. 17/4) von Frédéric Chopin und sein Walzer Nr. 3 a-Moll op. 34/2. Er beschreibt eine ländliche slawische Atmosphäre wie schon in den Mazurken, hier tanzt keine aristokratische Gesellschaft. Die linke Hand lässt den Schluss aufblühen und im Pedal verhallen.

Der musikalische Ring beginnt, sich zu schließen mit Debussy «Clair de lune», Andante aus: «Suite bergamasque» und «Rêverie». Es ist die reine Poesie und eines der großen «Mondschein»-Stücke, Leitidee für Debussys Natursymbolik. Auch hier die linke Hand: die gezupfte Achtelbewegung läuft fast durch das ganze Stück. Erik Satie mit «Danse de Traverse Nr. 2» und seinem Hang zu Mystifikation weist hin auf das Werk nach der Pause: Robert Schumann (1810 – 1856) «Kreisleriana. Fantasie für Klavier op. 16».

Wer war Kreisler – E.T.A. Hoffmanns Kapellmeister und Phantasiegestalt, sein zweites Ich, im kuriosen «Kater Murr», einer neuen Erzählform, deren Spukmotive und grotesk-übersinnliche Züge auf die Weltliteratur wirken, natürlich auch auf Komponisten, wie Robert Schumann. Er wollte die «Kreisleriana» eigentlich Clara Wieck widmen, entschied sich dann aber für Frédéric Chopin. Dieser war monatelang zu faul, die ihm gewidmete Komposition auch nur durchzublättern. Sie verstaubte auf Chopins Flügel. Als er sie dann doch anschaute, sagte er, «das sei ja wohl keine Musik mehr».

Das hören wir längst ganz anders und versuchen, das musikalische Seelenportrait des Komponisten zu erfassen, in seiner vollen poetischen Bedeutung. Schumann hat die «Kreisleriana» in acht Sätzen angelegt, drei langsamen und fünf raschen. Das erste Stück «äußerst bewegt», im Mittelteil eine gebrochene Melodie, dann ein zartes Pianissimo-Lied in Sechzehntel-Triolen zurück zum anfänglichen Agitatissimo. Das zweite und vierte Stück muten wie phantastische Träume an, eine Sehnsucht nach Geborgenheit. Sie wandelt sich in fast bewegungslose Erstarrung im sechsten und siebten Satz. Das Ganze ein Spuk, wilde Melodien und am Schluss eine Wahnsinnsvision im Pianissimo ausklingend.

Pianistisch setzt die «Kreisleriana» Geläufigkeit und Grifftechnik und ein individuelles Legato voraus. Die Pianistin kann sich der Melodik frei überlassen, aber angesichts der Vielgestaltigkeit selbst rhythmische Betonungen setzen. Robert Schumann hat wahrscheinlich in keiner seiner Kompositionen so phantastische, frei nachschlagende und unkonventionelle Bässe geschrieben wie in mindestens fünf der acht «Kreisleriana»-Nummern. Seine Vorschrift: «Die Bässe durchaus leicht und frei.»

All das bewegt das Innere von Hélène Grimaud, und sie meistert es auf unvergleichliche Weise. Ihre Musikalität, Technik, Interpretationen sind wie aus einer anderen Welt, die sie in ihr zuhörendes Publikum überträgt. Das ist beseelt und beglückt, klatscht stehend und wird belohnt mit zwei Zugaben: Frederic Chopin, «Etüde in F-Dur», mit den markanten Motiven der linken Hand und Sergej Rachmaninow (1873 – 1943) «Etude tableaux. Op.33», ein opulentes Virtuosenstück, dass man die Tasten des Flügels fliegen sieht.

Hélène Grimaud: «Wenn ich heute spiele, habe ich nicht mehr das Gefühl, allein zu sein. Ich habe das Gefühl, besucht zu werden.» Das Gefühl darf das Publikum für sich bestätigen.


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