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Kritik von Inga Dönges zur Festspielhaus-Aufführung am Samstag – Es ist Sommer: Die „Winterreise“ von Franz Schubert in Wien – 2021 in Baden-Baden „à la mode“

Kritik von Inga Dönges zur Festspielhaus-Aufführung am Samstag – Es ist Sommer: Die „Winterreise“ von Franz Schubert in Wien – 2021 in Baden-Baden „à la mode“
Joyce DiDonato, Mezzosopran, und Yannick Nézet-Séguin, Klavier. Foto: Andrea Kremper.

Bild Inga Dönges Kommentar von Inga Dönges
05.07.2021, 00:00 Uhr



Baden-Baden Joyce DiDonato, Mezzosopran, und Yannick Nézet-Séguin, Klavier: Eine wundervolle Opernsängerin und ein ausgezeichneter Dirigent gehen gemeinsam auf Schubert‘s «Winterreise».

Der romantische Klassiker Schubert ist der Schöpfer des Liedes. Über 600 Lieder und Gesänge hat er geschrieben und das Problem zwischen Melodie und Begleitung, Gefühl und Schilderung für sich gelöst. Sein Lied ist klassisch und romantisch zugleich: klassisch, weil Gesang und Klavier im Dienst der Dichtung stehen, romantisch durch den Überschwang der Fülle der Musik, die sich trotzdem der Dichtung unterordnet. Goethe nennt es das «Ideal des Liedes».

Das Klavier hat Farbe, Ausdrucksfähigkeit, reinste und edelste Sinnlichkeit – sein Meister war Schubert. Doch soll man die Rolle des Klaviers nicht orchestral ausdeuten, das hieße es naturalistisch zu vergröbern. «Interpretation auf dieser hohen Ebene ist im Grunde der Kunst des Komponierens gleichzusetzen – ist schöpferische Musik.» «Den kann ich nichts lehren, der hat gelernt vom lieben Herrgott.» So einer seiner Lehrer.

Die «Winterreise» vollendet Schubert am Ende seines Lebens (1827/1828). Wir schätzen es heute als höchste Kunst des Liedes. Die literarische Vorlage stammt von Wilhelm Müller. Lassen wir Heinrich Heine in einem Brief vom 7. Juni 1826 sprechen: «Es drängt mich mehr, Ihnen zu sagen, dass ich keinen Liederdichter außer Goethe so sehr liebe wie sie.»

Müller erzählt die Geschichte eines jungen Mannes (sic!) der von einem geliebten Mädchen zurückgewiesen wird. Er begibt sich auf die Wanderung in Schnee und Dunkelheit und wird getragen von seinen Gefühlen: «Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus.» «Ich träumte von Lieb um Liebe, von einer schönen Maid, von Herzen und von Küssen, von Wonn und Seligkeit.» «Wann halt ich dich, Liebchen, im Arm?»
Hier stellt sich die Frage nach dem Sinn: warum eine Frauenstimme, wenn Text und Musik für Männerstimme geschrieben sind? Es ist hoffentlich nicht die jetzige Mode der Grund! Im Theater geht man schon länger mit diesen «Geschlechtsumwandlungen» um. Die Musik erhofft man sich aber frei davon!

So sind die Fußstapfen groß, in die beide Künstler treten. Joyce DiDonato muss sich dem Vergleich stellen mit Dietrich Fischer-Dieskau, Hermann Prey, Peter Schreier; bei den Damen, die das Experiment wagten, Christa Ludwig, Brigitte Fassbaender. Alle sind Muttersprachler und lassen an der Diktion keine Wünsche offen. Gleiches gilt für Nicht-Muttersprachler wie Ian Bostridge und Peter Mattei. Hier, im Festspielhaus, war es ein Segen, dass die Texte in der Anzeige mitliefen. Man hätte kaum etwas verstanden außer den überbetonten Endkonsonanten. Joyce DiDonato hat die «Winterreise» seit vier Jahren im Repertoire, da sollte ein Lehrer längst «drübergeputzt» haben. Ihr Begleiter ist gebürtiger Kanadier und somit auch keine korrigierende Hilfe.

Sein Vortrag sollte nicht von den Noten ausgehen, sondern vom Text. Die Melodie ist zwar Träger des Ausdrucks, doch Ausgangspunkt für die Gestaltung ist der Inhalt des Liedes. Sänger und Begleiter haben in der Geschichte des Kunstliedes einen engen Kontakt, über Jahre gewachsen, oft ausschließlich miteinander zu musizieren. Dem Musikfreund bietet sich dafür die «Schubertiade» in Hohenems.

Am Ende des zutiefst berührenden Liederzyklus: Der Leiermann. «Wunderlicher Alter, soll ich mit dir gehen? Willst zu meinen Liedern Deine Leier drehen?» Diese Frage an den Bettler ist das letzte Wort. Er erreicht das Wirtshaus nicht. Der Weg nach Innen führt ans Ende, in die Einsamkeit in a-Moll. Der Zuhörer erkennt nicht eine ferne Vergangenheit, sondern seine eigenen authentischen Gefühle wieder; denn Schubert und Müller halten uns einen Spiegel entgegen.

Wie lässt sich dieser Abend beschreiben? Beide Künstler wollen eine neue Idee bringen und ausführen. Die Sängerin hat stimmliche Probleme, in der Tiefe, bei mancher Intonation, die man von ihr in der Oper nicht kennt. Dazu steht oder sitzt sie direkt in der Rundung des weit geöffneten Flügels. Beide Künstler spielen und singen vom Blatt, wobei sich nicht die Souveränität eines Gerald Moore ergibt. Keine Kleinigkeit: gespielt wurde auf dem hauseigenen Steinway-Flügel, der Bösendorfer ist mit seinem Wiener Klang wärmer.

Nach tosendem Beifall gab es eine charmante Rede von Joyce DiDonato, in der der Begriff «crazy» für dieses musikalische Experiment erwähnt wurde. Aber auch als Promotion-Tour für die kürzlich eingespielte CD macht es den Zuhörer nachdenklich.

Dann gab es einen versöhnlichen Schluss – wunderbar gesungen, weiche Kantilenen zeigten das Können der Opernsängerin: Franz Schubert, An die Musik: «Du holde Kunst, in wieviel grauen Stunden, wo mich des Lebens wilder Kreis umstrickt, hast du mein Herz zu warmer Lieb entzündet, hast mich in eine beßre Welt entrückt.» Das wünscht man auch dem Baden-Badener Festspielhaus.


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