Neujahrsempfang der Stadt Gernsbach

Spannende Neujahrsrede des Gernsbacher Bürgermeisters Julian Christ – „In den beiden Folgejahren zeigt sich in Europa die Sonne kaum“

Spannende Neujahrsrede des Gernsbacher Bürgermeisters Julian Christ – „In den beiden Folgejahren zeigt sich in Europa die Sonne kaum“
Julian Christ, Bürgermeister von Gernsbach. Foto: Archiv

Gernsbach, 14.01.2023, Bericht: Redaktion Es war keine gefällige Sonntagsrede, mit der Julian Christ seine Bürger und Einwohner am Freitag auf das neue Jahr 2023 einstimmte.

Der Gernsbacher Bürgermeister beginnt seine Rede mit einem Ereignis vor über 200 Jahren, weit entfernt von der Gemeinde Gernsbach, das schließlich aber auch das Leben in seiner Stadt und in ganz Europa verändert. Der Gernsbacher Bürgermeister hat es in seiner Rede verstanden, auf die global ernste Lage einzugehen und dennoch Argumente zu liefern für Hoffnungen, die man sich aber nur machen kann, wenn alle gemeinsam handeln.

Julian Christ liefert Beispiele aus der Vergangenheit, bei denen es gelang, das Ruder herumzureißen. Er geht dann auch auf die strittigen Themen in seiner Stadt ein, um dann zum Schluss seiner Rede zurückzukehren auf das große Ganze. So übersteige alleine die Sonneneinstrahlung auf der Erde den weltweiten Energiebedarf um mehr als das Tausendfache. «Lassen Sie uns diese Energie ins neue Jahr mitnehmen», wünscht er allen seinen Bürgern.

Neujahrsrede von Bürgermeister Julian Christ zum Neujahrsempfang der Stadt gernsbach am 13. Januar

Die Rede lag goodnews4.de vorab schriftlich vor. Es gilt das gesprochene Wort.

Herzlich Willkommen beim Neujahrsempfang der Stadt Gernsbach!

Besonders begrüße ich: Herrn Abgeordneten Thomas Hentschel, Herrn Abgeordneten Jonas Weber, meine Kollegen Bürgermeister und Oberbürgermeister, die Mitglieder des Gemeinderates und der Ortschaftsräte, die Vertreter der Feuerwehr, der Vereine, der Rettungsdienste und der Glaubensgemeinschaften, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Stadt Gernsbach und unseren heutigen Ehrengast Altbürgermeister Dieter Knittel mit Familie,

«Ein Vulkan bricht auf der indonesischen Insel Sumbawa aus. Er spuckt nicht nur ungeheure Mengen Magma aus, sondern auch eine bis zu 43 km hohe Aschesäule. Diese Partikel verändern das Klima weltweit. In den beiden Folgejahren zeigt sich in Europa die Sonne kaum. Dauerregen und später Frost führen zu Missernten und Hungersnot.» Genau das passierte im Jahr 1815. Quelle: Artikel «Geht doch», FAZ vom 3. Januar 2023

 

Warum erzähle ich Ihnen das? Dieser Vulkanausbruch ist uns heute kaum mehr bekannt. Er führt uns aber vor Augen, wie unvorbereitet uns schwere Krisen treffen können. Wie ging die Menschheit mit dieser Herausforderung um? Hier drei Beispiele:

1. Da die meisten Pferde nicht mehr ernährt werden können, entwickelt der Mannheimer Forstbeamte Karl Drais eine Laufmaschine, Vorbild des heutigen Fahrrads.

2. Der Chemiker Justus Liebig beschäftigt sich mit dem Zusammenhang zwischen mineralischer Düngung und Pflanzenwachstum.

3. König Wilhelm I. von Württemberg, einem in Armut versinkenden Land, gründet in Hohenheim eine Gartenbauschule. Diese erlangt durch eine Ackergerätefabrik schnell an Bekanntheit und legt die Grundlagen für eine moderne Landwirtschaft.

Damit wird deutlich, wie Katastrophen zu technischem und sozialem Fortschritt führen können. Oder in anderen Worten: In jeder Krise steckt auch eine Chance.

Und Krisen haben wir aktuell mehr als genug. Von der Corona-Pandemie ging es nahtlos über in einen Krieg, der inmitten von Europa tobt. Historisch hohe Flüchtlingszahlen treffen auf eine abkühlende Wirtschaft. Die Inflation zieht spürbar an, Energie und Lebensmittel werden deutlich teurer. Die Bundespolitik warnt vor dem heißen Herbst und schwört uns kurz danach auf einen kalten Winter ein.

Die Folgen dieser Mehrfachkrise kommen immer mehr bei uns an. Gerade auch in unserem Einzelhandel und der Nahversorgung. Die Schließung der Metzgerei Geiser sowie der Bäckerei Häfele sind der Ausdruck einer Krise, die jede Stadt in Deutschland spürt. Denn wenn es an Fachkräften mangelt und gleichzeitig die Energiepreise durch die Decke gehen, bleibt auch alt eingesessenen Geschäften nur die Schließung.

Und sowohl die Energiekrise als auch der Fachkräftemangel sind Versäumnisse der Vergangenheit: Frühere Bundesregierungen haben es versäumt, unser Einwanderungsrecht so zu modernisieren, dass Fachkräfte zu uns kommen können. Und eben jene Regierungen waren in der Energiepolitik entweder ambitionslos oder wollten am liebsten alles auf einmal ändern. Die Folgen dieser Politik ohne Kompass spüren wir alle. Vor allem aber jene, die schon seit langem nicht wissen, wie sie die nächste Rechnung bezahlen sollen.

Ich hoffe sehr, dass unsere Politiker auf allen Ebenen diese Mehrfachkrise als Chance nutzen werden. Als Chance, dauerhaft die richtigen Rahmenbedingungen zu setzen damit wir auch in 20 Jahren noch einen Bäcker, einen Metzger oder einen Arzt vor Ort haben.

Als Bürgermeister frage ich mich aber auch selbst: Was kann ich dafür tun, dass unser Gernsbach mit seinen Ortsteilen fit für die Zukunft ist? Auf diese Frage gibt es keine einfache Antwort. Aber es gibt eine Reihe von Themen, die Gemeinderat und Stadtverwaltung gemeinsam vorangebracht haben.

So zeigen die Hochwasserschutzmaßnahmen am Wörthgarten und am Katz´schen Garten, dass wir für das nächste Hochwasser vorsorgen. Auch die Planungen für den Schutz der Schlossstraße werden in diesem Jahr auf den Weg gebracht werden.

Unsere stetigen Investitionen in unsere Freiwillige Feuerwehr haben sich gerade erst vor kurzem bezahlt gemacht: So konnte der Brand in der Weinbergstraße, bei dem zehn Menschen ihr Zuhause verloren haben, professionell gelöscht werden. Mein Dank und meine Anerkennung für die hervorragende Leistung der Kameradinnen und Kameraden der Feuerwehr sowie an die beteiligten Hilfsorganisationen. Ihr entschiedenes Handeln hat dazu geführt, dass keine Personen zu Schaden gekommen sind. Mein Dank geht an dieser Stelle auch an den Krisenstab im Rathaus: Wir konnten die Hausbewohner noch in der Nacht unterbringen, haben stets Kontakt gehalten und jedem Betroffenen Hilfe angeboten.

Mit der Stiftung «Gernsbach hilft» ist es uns gelungen, zehntausende Euro an Spenden einzuwerben, die zeitnah an die Bedürftigen des Brandes weitergegeben werden sollen. Dies wird das Kuratorium der Stiftung, in dem unsere Kirchen, die Sozialstation, der Soziale Dienst und die Familien Oetker/Fischer-Zach vertreten sind, noch beschließen. Mein außerordentlicher Dank an alle Spenderinnen und Spender!

Eine enorme Herausforderung ist für uns die Unterbringung Geflüchteter. Suchten wir noch im Februar 2022 nach Nutzungen für das städtische Postgebäude, haben wir im Gemeinderat zwischenzeitlich beschlossen, das Gebäude umzubauen und als Flüchtlingsunterkunft zu nutzen.

Mit zahlreichen Flüchtlingen in diesem Jahr werden wir weiter am Ball bleiben müssen: Neben dem Kauf geeigneter Immobilien werden wir in Staufenberg in den Bau von Wohnungen für Flüchtlinge gehen. Denn nur mit einem Mix aus kurz- und mittelfristig bereitstehenden Wohnungen wird es uns gelingen, die Belegung von Hallen dauerhaft zu vermeiden. Der Schulsport und die Aktivitäten der Vereine sind für unser Zusammenleben zentral und sollten deshalb aufrechterhalten werden. Das ist der Gernsbacher Weg zur Bewältigung dieser Herausforderung.

Die Unterbringung Geflüchteter muss im Sinne der Integration dezentral, d.h. flächendeckend in der gesamten Stadt erfolgen. Wenn wir heute geeignete Wohnungen kaufen oder selbst bauen, schaffen wir zudem Werte. Denn Häuser und Grundstücke sind wertvoll und können bei mittelfristig sinkenden Flüchtlingszahlen auch für bezahlbares Wohnen zur Verfügung stehen.

Wie wichtig Häuser und Grundstücke sind, haben wir als Gemeinderat erkannt: Mit der Gründung einer städtischen Wohnbaugesellschaft, der StadtRäume, bekennen wir uns zum Erhalt unserer rund 85 städtischen Wohnungen. Gleichzeitig haben wir damit ein Instrument, um strategische Grundstücke zu kaufen und mittelfristig weiteren bezahlbaren Wohnraum zu schaffen.

Wenn wir als Kommune fit für die Zukunft sein wollen, müssen wir uns aber auch unserer Stärken bewusst sein. Und dafür steht kaum etwas so sehr wie unsere Altstadt. Sie ist ein Magnet für Auswärtige und Einheimische. Sie verfügt über einen lebendigen und individuellen Einzelhandel und eine hervorragende Gastronomie.

Nach einem langen Bürgerbeteiligungsprozess hat sich der Gemeinderat mit großer Mehrheit für den Rahmenplan Altstadt entschieden. Neben der Einführung der Fußgängerzone umfasst dieser zahlreiche weitere Schritte wie z.B. die Errichtung von Balkonen an der Murg und die Begrünung der Altstadt. Wenn wir uns dieses Ziel für mehr Lebensqualität vor Augen führen, ist so manche Diskussion der letzten Wochen nicht nachvollziehbar.

Weder den Stadtplanern noch den Gemeinderäten und mir hat sich bisher erschlossen, warum möglichst viele Autos durch unser Wohnzimmer Altstadt rauschen sollen. Denn Blechschlangen, die sich den Stadtbuckel hochwinden, stehen für Abgase und Lärm und belegen Platz, der dann nicht mehr für Fußgänger und Radfahrer zur Verfügung steht. Und wer in die Geschichte anderer Kommunen schaut, wird erkennen, dass es überall einige Zeit gebraucht hat bis die Chancen einer Fußgängerzone auch genutzt werden. Geben wir also unserer Altstadt diese Zeit!

Teil der Altstadt ist auch die Brückenmühle. Viel zu lange verharrt dieses tolle Gebäude schon im Dornröschenschlaf. Nachdem im letzten Jahr der Bauantrag für die Sanierung der Brückenmühle gestellt wurde, haben wir die Zeit genutzt: Gemeinsam mit dem neuen Eigentümer, der Firma Stenner & Frank aus Baden-Baden, wurden und werden zahlreiche Themen wie der Artenschutz, der Brandschutz und der Denkmalschutz bearbeitet. Aktuell befinden wir uns in der Schlussphase der Vertragsgespräche. Dabei kommen auch innovative Lösungen zum Tragen, um den Bedarf an Stellplätzen zu reduzieren, wie z.B. die Bereitstellung von Carsharing-Angeboten. Ich bin zuversichtlich, dass wir dem Gemeinderat schon bald die erforderlichen Beschlüsse vorschlagen können.

Fit für die Zukunft sind wir auch beim Ausbau des schnellen Internets. Beim Sommerempfang hatte ich Ihnen noch angekündigt, dass unsere Stadtwerke Gernsbach unter Hochdruck an der Erstellung eines Förderantrages arbeiten. Zwischenzeitlich sind wir deutlich weiter: So ist es uns gelungen, Fördermittel von 7,56 Mio. Euro für den Ausbau des schnellen Internets von Bund und Land zu gewinnen. Das dürfte eine der höchsten Fördersummen in der Geschichte unserer Stadt sein. Wir starten in diesem Jahr einen Wettbewerb, bei dem sich verschiedene Unternehmen um diese Fördermittel und den Ausbau des schnellen Internets in Gernsbach bewerben können. Unser Ziel ist klar: Bis Ende 2025 wird möglichst jedes Haus in Gernsbach und seinen Ortsteilen an das Glasfasernetz angebunden. Zum Vergleich: In Baden-Württemberg verfügen laut Breitbandatlas aktuell nur 10 % aller Haushalte über einen Glasfaseranschluss. Durchbrechen wir hier in Gernsbach diese Schallmauer!

Mit diesen Kraftanstrengungen bei • dem Katastrophenschutz, • der Unterbringung Geflüchteter, • der Gründung der Wohnbaugesellschaft, • der Aufwertung der Altstadt, • der Sanierung der Brückenmühle • und dem Ausbau des schnellen Internets stellen wir die richtigen Weichen für die Zukunft unserer Stadt.

All das ist nur durch die Beschlüsse des Gemeinderates sowie der Ortschaftsräte und nur dank der Tatkraft unserer städtischen Beschäftigten möglich. Herzlichen Dank an Sie alle für die konstruktive und engagierte Zusammenarbeit!

Eine Neujahrsrede durfte in den letzten Jahren nicht ohne das ehem. Pfleiderer-Areal auskommen. Dazu sage ich nur eines: Schauen Sie sich die Baustelle an. Sie spricht für sich.

Ich habe diese Rede mit dem Bericht über den Vulkanausbruch von 1815 begonnen. Eine Katastrophe, die aber auch positive Entwicklungen hervorgebracht hat. Es ist an uns, in den jetzigen Krisen – trotz aller Belastungen und persönlicher Schicksalsschläge – auch die Chance zu erkennen.

Auch wenn niemand von uns in die Zukunft sehen kann, glaube ich fest daran, dass wir als Gesellschaft gestärkt aus diesen Herausforderungen gehen werden:

Dass von acht Milliarden Menschen auf der Welt rund 90 Prozent nicht in absoluter Armut leben und eine höhere Lebenserwartung als je zuvor haben, stimmt mich optimistisch. Und auch das Thema Energie kann gelöst werden: So übersteigt alleine die Sonneneinstrahlung auf der Erde den weltweiten Energiebedarf um mehr als das Tausendfache. Lassen Sie uns diese Energie ins neue Jahr mitnehmen.

Ich wünsche Ihnen allen ein frohes neues Jahr!


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