Gastkommentar

Gastkommentar von Thomas Bippes – „Lieber Schlaglöcher als Funklöcher“

Gastkommentar von Thomas Bippes – „Lieber Schlaglöcher als Funklöcher“
Thomas Bippes, Professor für Medien- und Kommunikationsmanagement und Gesellschafter einer Online Marketing Agentur in Baden-Baden. Foto: Fotostudio Fritz

Baden-Baden, 16.12.2019, Bericht: Redaktion In unregelmäßigen Abständen veröffentlicht goodnews4.de Beiträge von Gastkommentatoren. Zum engeren Kreis gehören der Baden-Badener Bestsellerautor Franz Alt, der Künstler und Aktivist Gerd Weismann und Thomas Bippes, der sich insbesondere den Themen der Digitalisierung, IT und Künstlichen Intelligenz zuwendet.

Thomas Bippes ist Professor für Medien- und Kommunikationsmanagement an der SRH Hochschule Heidelberg und Gesellschafter einer Online Marketing Agentur in Baden-Baden.

Baden-Baden, 16.12.2019, Kommentar: Thomas Bippes Am 3. August 1984 wurde nach Deutschland die erste E-Mail verschickt. Sie kam übrigens in Karlsruhe an. Heute, 35 Jahre später, gilt die Digitalisierung noch immer als ungelöste Aufgabe. Das mag am rasanten technischen Wandel liegen, dem Behörden und Unternehmen hinterherhecheln. Denken Sie nur an die mobilen Datenträger: Von der Diskette über die CD-ROM bis zum USB-Stick sind nur ein paar Jahre vergangen. Heute trägt jeder seine Daten überall abrufbar über das Smartphone mit sich herum. Irgendwie ist es doch unverständlich, dass gerade die öffentliche Verwaltung beim Thema Digitalisierung nur schleppend vorankommt.

Das gerade veröffentlichte Zukunftspanel «Staat und Verwaltung» zur Digitalisierung der Hertie School of Governance, an dem sich mehr als 300 Behörden beteiligt haben, zeichnet ein frustrierendes Bild: Mehr als 60 Prozent der Verwaltungschefs in Landes- und Bundesbehörden beurteilen den Fortschritt der Digitalisierung kritisch oder sehr kritisch. Bis zum Jahr 2022 sollen die Verwaltungsportale von Bund und Ländern miteinander verknüpft sein. Doch laut der Umfrage plant derzeit nur jede dritte Behörde, sich dem Verbund anzuschließen. Obwohl es gefühlt an Digitalisierungsinitiativen nur so wimmelt, verfügt nur jeder siebte Behördenchef über eine Strategie.

In Baden-Württemberg sollen sogenannte Digitallotsen Steuermänner beziehungsweise Steuerfrauen in jedem Rathaus werden. Sie sollen den Weg für E-Government bereiten. Doch was nützt der beste Lotse, wenn der Chef des Hauses einen anderen Kurs verfolgt? Dann bleibt das Projekt Digitallotsen ein weiterer Flicken in einem bunten Digitalisierungsprojekte-Patchwork in den deutschen Verwaltungen – schwer, dabei den Überblick zu behalten. Auch in Mecklenburg-Vorpommern soll es bald Digitallotsen geben. Das Konzept könnte also Schule machen.

Vielleicht liegt es im Wesen der deutschen Verwaltung, dass sie beim Thema Digitalisierung zuerst an Sicherheit denkt. Das ist auch richtig und wichtig. Doch vielleicht sollten im gleichen Atemzug die Vorteile hervorgehoben werden. Denn innovative Lösungen können das Leben komfortabler und zudem sicherer machen. Stichwort Gesundheitsförderung: Die Telemedizin ist die Chance für ärztlich unterversorgte Regionen oder für Patienten, die nicht mobil sind. Die medizinische Versorgung profitiert schon heute massiv von moderner Informationstechnologie, zum Beispiel in Hybrid-Operationssälen. Intelligente Haustechnik unterstützt eine selbstständige Lebensführung bis ins hohe Alter. Fahrassistenzsysteme sollen die Teilnahme am Straßenverkehr sicherer machen und den Verkehr intelligenter und nachhaltiger gestalten. Arbeiten von zu Hause aus vereinfacht die Vereinbarkeit von Familie und Beruf.

Vor diesem Hintergrund ist es im Jahr 2019 nicht mehr zeitgemäß, dass wir für viele Verwaltungsakte noch immer persönlich in der Amtsstube vorsprechen und auf Papier eine Unterschrift leisten müssen. In Litauen gilt der Begriff E-Government längst als überholt. Hier spricht man von Digital Governance. Ziel dabei ist, neue digitale Prozesse und Funktionen zu entwickeln, die Bürgerinnen und Bürger leicht nutzen können – vom Kind bis zum Senior. Das verbundene Einsparpotential durch die Digitalisierung hat die litauische Verwaltung erkannt und genutzt.

Baden-Württemberg will bei der digitalen Verwaltung bundesweit Vorreiter sein. Behördengänge sollen schneller und einfacher werden. Als Vorbild dient das Baltikum. Estland gilt hier als führend in der digitalen Transformation. Steuererklärungen, die nach zwei Minuten fertig sind, Rückzahlungen, die nach kurzer Zeit gebucht werden, Amtsgänge vom eigenen Computer aus – eine bürgernahe digitale Verwaltung würde gut ins Ländle passen. Schließlich geht es nicht nur um einen Mehrwert für die Bürgerinnen und Bürger, sondern auch um Wettbewerbsvorteile.

Seit 2004 gibt es in Estland die elektronische Steuererklärung. Seit 2008 wird die angesagte Blockchain Technologie genutzt. Fast 100 Prozent der Esten nutzen ganz selbstverständlich Online Banking. Und etwa neun von zehn Unterschriften können digital geleistet werden. Die Ausnahmen sind Heirat, Scheidung und Immobilienkauf. Was bei vielen Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland ein mulmiges Gefühl hervorruft, findet in der Bevölkerung Estlands eine breite Zustimmung. Sie vertrauen ihrem Staat, der sich transparent präsentiert. Datenmissbrauch wird hart bestraft. Digitalisierung wird als Chance und weniger als Gefahr wahrgenommen.

Und in Deutschland? 35 Jahre nach der ersten E-Mail arbeiten wir noch immer an der flächendeckenden Versorgung mit schnellem Internet. Mancherorts wird aus Angst vor Baustellen die Breitbandversorgung nach hinten geschoben. Das jedoch sind die falschen Prioritäten. EU-Kommissar Günther H. Oettinger hat einmal gesagt: «Lieber Schlaglöcher als Funklöcher.»


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