Gastkommentar

Gastkommentar von Gerd Weismann – Über die Grenze geschaut – Das Virus, die Gelbwesten und die Krise des Systems am Beispiel Frankreich

Gastkommentar von Gerd Weismann – Über die Grenze geschaut – Das Virus, die Gelbwesten und die Krise des Systems am Beispiel Frankreich
Bild: Gerd Weismann / Fotokunst / aus der Serie "Flucht und Vertreibung"

Bild Gerd Weismann Baden-Baden, 17.03.2020, Bericht: Redaktion In unregelmäßigen Abständen veröffentlicht goodnews4.de Beiträge von Gastkommentatoren. Zum engeren Kreis gehören der Baden-Badener Bestsellerautor Franz Alt, der Künstler und Aktivist Gerd Weismann und Thomas Bippes, der sich insbesondere den Themen der Digitalisierung, IT und Künstlichen Intelligenz zuwendet.

Gerd Weismann ist Baden-Badener, Künstler und Träger des Kleinkunstpreises Baden-Württemberg.

Kommentar: Gerd Weismann Die «Corona-Pandemie» trifft besonders auch unser direktes Nachbarland mit voller Wucht. Und das in einer allgemeinen Krisensituation, welche seit Monaten eine, im Nachkriegsfrankreich noch nie dagewesene, Welle von sozialen Bewegungen hervorgerufen hat, ohne bislang allerdings die Regierung zu nennenswerten Zugeständnissen bewegen zu können. Nur mit äußerster Brutalität und einem zum Normalzustand gewordenen Ausnahmezustand konnte und kann sich der Präsident und seine Regierung an der Macht halten. Zu der physischen Brutalität, die in den vergangenen Monaten dutzende welche Verstümmelte bis hin zu Todesopfern bei den Demonstrierenden verursacht hat, kommt die Brutalität, mit welcher der französischen Gesellschaft mit Hilfe eines Ausnahmeparagrafen, ohne abschließende Parlamentsdebatte, eine tiefgreifende Rentenreform verordnet wurde.

Selbst der konservative FIGARO konnte nicht umhin, die breite Ablehnung dieser Reform durch die Bevölkerung zu konstatieren. Die Anwendung des § 49.3 zum Abbruch der Parlamentsdebatte, um das Rentengesetz durchzupeitschen, hat zum spektakulären Austritt mehrerer Abgeordneter aus der Macron-Partei geführt. Das brutale Vorgehen der Polizei gegen Jugendliche der «Fridays for Future»-Bewegung, gegen die Streikenden aus dem Gesundheitswesen, gegen demonstrierende Justizangestellten und Rechtsanwälte, gegen die protestierenden Feuerwehrleute, gegen demonstrierende Frauen am Vorabend des 8. März, gegen die Gelbwestenbewegung, et cetera hat zu einem tiefergehenden Bruch des Regimes mit der Zivilgesellschaft geführt.

In dieser äußerst angespannten Situation wird Frankreich von den Auswirkungen der Pandemie getroffen, bei einem völlig überforderten, weil total kaputtgesparten Gesundheitswesen, in dem dutzende Ärzte und Pfleger im letzten Jahr mit Suizid auf eine für sie inzwischen unerträgliche Situation reagiert haben. Seit über einem Jahr wird in den Krankenhäusern gestreikt, indem das pflegende Personal keine administrativen Arbeiten mehr ausführt und fast wöchentlich in irgendeiner größeren Stadt auf die Straße geht. Der Kollaps des Gesundheitswesens in Frankreich durch die sich rasant ausbreitende Pandemie steht vermutlich unmittelbar bevor.

Selbst der französische «Präsident der Reichen» – wie Emanuel Macron mittlerweile auch gern genannt wird – musste am Freitagabend in seiner an die Nation gerichtete Fernsehansprache eingestehen, dass «es Bereiche wie das Gesundheitswesen gibt, deren funktionieren nicht von der Logik des Marktes abhängen darf». Und das, nachdem er in seiner bisherigen Amtszeit 17.000 Krankenhausbetten gestrichen, das Personal bis über die Schmerzgrenze abgebaut, hunderte Entbindungsstationen und fast alle Krankenhäuser im ländlichen Raum geschlossen hat.

Aber nicht nur Corona stellt das herrschende System in Frage. Das gleiche, was für die Krankenhäuser gilt, betrifft auch viele andere gesellschaftliche Bereiche und globale Phänomene. Oder kann sich irgendjemand noch ernsthaft vorstellen, dass die Klimakatastrophe in ihren schlimmsten Auswirkungen noch verhindert werden kann, wenn das die «Kräfte des Marktes», sprich die gegenseitige gnadenlose Konkurrenz und die Orientierung am Profit, regeln sollen? Oder die durch eben so ein System hervorgerufene Krisen und Kriege, welche ganze Länder verwüsten und Millionen Menschen als elende Flüchtlinge um den Planeten treiben und Jahr für Jahr Tausende hilfesuchender Menschen schlicht und einfach im Mittelmeer absaufen oder an den Grenzen verelenden lassen? Oder die unerträgliche Tatsache, dass jede Minute ein Kind verhungert während die Menschheit eigentlich über nie zuvor gehabte Mittel verfügt?

Höchste Zeit, die häusliche Quarantäne und die durch das weitgehende Konsumverbot (Fußball, Disco, Kino, Events etc.) gewonnene Zeit zu nutzen, sich einmal etwas tiefgehender zu informieren und dabei vielleicht sogar über eine grundsätzliche Systemänderung nachzudenken. Literatur dazu gibt es genug. Z.B.: Jutta Ditfurth Zeit des Zorns: Warum wir uns vom Kapitalismus befreien müssen.
Bild Jutta Ditfurth Zeit des Zorns Aus dem Vorwort: «Unser Ziel ist, dass Menschen ein Leben ohne Ausbeutung, Diskriminierung, Hunger und Krieg führen können. Dafür sind energischere Maßnahmen als Mahnwachen und Kundgebungen nötig. (...) Unser Ziel ist eine Gesellschaft, die auf Solidarität aufbaut und auf sozialer Gerechtigkeit, in der es keine Ausbeutung und keine Herrschaft von Menschen über Menschen mehr gibt, eine Gesellschaft, in der wir basisdemokratisch entscheiden, wie wir leben und arbeiten wollen. Das ist ein tollkühner Plan. Und wir müssen alles selbst machen. Die Mittel, durch die wir dieses Ziel erreichen könnten, werden manche eine soziale Revolution nennen. Einverstanden.»


Zurück zur Startseite und zu den weiteren aktuellen Meldungen.