Leserbrief
Leserbrief „Meine Meinung“ – Zum Leserbrief von Frau Iliya Hordiychuk vom 8. August 2023 – „Netrebko-Fan zeigt Hitlergruß“ – „Herbert von Karajan trat bereits 1933 der NSDAP bei“
Baden-Baden, 21.09.2023, Leserbrief In einem Leserbrief an die Redaktion nimmt goodnews4-Leser Boris Fernbacher Stellung zu dem Leserbrief von goodnews4-Leserin Liliya Hordiychuk Leserbrief «Meine Meinung» – «Skandal bei Netrebko-Auftritt» – Netrebko-Fan zeigt «Hitlergruß».
Sehr geehrte Frau Hordiychuk,
Ihre Kritik an der Nähe von Anna Netrebko zum Diktator Putin und seinem verbrecherischen Krieg ist absolut berechtigt. Wer wie Netrebko seinen Geburtstag im Kreml feiert und im Donbas mit russischen Separatistenführern posiert, muss sich auch harte Kritik gefallen lassen. Mir persönlich ist Frau Netrebko auch nicht besonders sympathisch. Folgende Forderung von Ihnen kann ich allerdings nicht teilen:
«Weshalb hat das Festspielhaus Baden-Baden nicht eine kurze Erklärung von ihr verlangt, dass sie sich von Putin und dem verbrecherischen Angriffskrieg in der Ukraine distanziert? Weshalb ist sie nicht einfach kurz zu den Opfern des russischen Angriffskrieges vor dem Festspielhaus gegangen und hat sich, so wie viele Millionen Menschen in Deutschland, mit diesen solidarisiert?»
In einer Demokratie ist niemand verpflichtet sich für oder gegen etwas auszusprechen, sich von irgendjemand zu distanzieren oder sich mit irgendjemand zu solidarisieren. Neben dem Recht auf freie Meinungsäußerung (solange diese keine Volksverhetzung oder Aufforderung zur Gewalt darstellt) gibt es auch das Recht sich zu einer Angelegenheit oder Person gar nicht zu äußern; also zu schweigen.
Ihre Forderung nach offenen Bekenntnissen, Distanzierungen und Solidarisierungen steht in einer schlimmen historischen Tradition. Auch im stalinistischen Russland und der DDR wurde von Menschen und besonders auch Künstlern vom Regime gefordert, sich von irgendwelchen angeblichen Konterrevolutionären, Abweichlern von der Parteilinie oder beim Regime in Ungnade gefallenen Künstlerkollegen öffentlich zu distanzieren. Häufig verlangte man auch öffentliche Schuldbekenntnisse dafür, dass man z.B. in seinem künstlerischen Werk vom sozialistischen Realismus abgewichen sei und sich «dekadenten kapitalistischen Ausdrucksformen» zugewandt habe. Nach diesem mea culpa musste man natürlich auch Reue zeigen und Besserung geloben. So fiel der russische Komponist Dmitri Schostakowitsch bei Stalin in Ungnade und man forderte von ihm Musik, die in mächtigen Chören den großen Führer Stalin besingt. Später fuhr die sowjetische Presse eine Diffamierungskampagne gegen Schostakowitsch, so dass er schließlich reumütig folgendes Schuldbekenntnis ablegte:
«Obwohl es mir schwer fiel die Urteile über meine Musik und noch mehr die Verurteilung seitens des Zentralkomitees zu hören, weiß ich dass die Partei recht hat. Ich bin tief dankbar für all die Kritik, die gegen mich erhoben wurde.»
Deshalb kann ich nur eindringlich davor warnen, dass wir es uns angewöhnen in unserer freiheitlichen Demokratie öffentliche Distanzierungen, Schuldbekenntnisse oder Solidarisierungen von Menschen einzufordern. Andernfalls sind wir bald auch nicht mehr viel besser als Putin, Erdogan oder der kleine, dicke Mann aus Nordkorea!
Sie sollten bei aller Kritik an Frau Netrebko auch bedenken, dass Musiker nicht zwangsläufig auf anderen Gebieten wie der Politik auch kluge Köpfe und Vorbilder für uns sind. Die Komponisten Richard Wagner und Hans Pfitzner waren z.B. bekennende Antisemiten, werden aber heute immer noch fleißig aufgeführt. Herbert von Karajan trat bereits 1933 der NSDAP bei, dirigierte bei Veranstaltungen der Nazis und profitierte karrieremäßig sehr von seiner Nähe zum Regime. Dennoch wurden er und seine Einspielungen und Auftritte von 1945 bis zu seinem Tode 1989 im In- und Ausland begeistert bejubelt.
Wir sollten uns auch dafür hüten, jeden Bereich des Lebens – ob in Musik, Literatur, Sport, Film oder im Privatleben – primär nach den Kriterien der politisch korrekten Haltung zu bewerten. Frau Netrebko tritt in Baden-Baden auf, weil sie eine erstklassige klassische Sängerin ist und nicht, weil sie für uns ein Vorbild an politisch oder moralisch richtigem Verhalten ist. Und solange sie nur Arien von Verdi oder Puccini und nicht nationalistische russische Hymnen im Festspielhaus trällert ist das zumindest für mich so auch okay.
Boris Fernbacher
Baden-Baden
Wenn Sie auch einen Leserbrief an die Redaktion senden möchten, nutzen Sie bitte diese E-Mail-Adresse: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!
In Ausnahmefällen veröffentlicht goodnews4.de Leserbriefe auch unter einem Pseudonym. Die tatsächliche Identität des Verfassers ist goodnews4.de in jedem Fall bekannt.
PDF «Spielregeln» für Leserbriefe an goodnews4.de
Zurück zur Startseite und zu den weiteren aktuellen Meldungen.







