Gastkommentar

Aufreger des Jahres: Gewalt in Stuttgart – Gastkommentar von Gerd Weismann

Aufreger des Jahres: Gewalt in Stuttgart – Gastkommentar von Gerd Weismann
Foto: Gerd Weismann

Bild Gerd Weismann Gastkommentar von Gerd Weismann
25.06.2020, 00:00 Uhr



Baden-Baden In unregelmäßigen Abständen veröffentlicht goodnews4.de Beiträge von Gastkommentatoren. Zum engeren Kreis gehören der Baden-Badener Bestsellerautor Franz Alt, der Künstler und Aktivist Gerd Weismann und Thomas Bippes, der sich insbesondere den Themen der Digitalisierung, IT und Künstlichen Intelligenz zuwendet.

Gerd Weismann ist Baden-Badener, Künstler und Träger des Kleinkunstpreises Baden-Württemberg.

Kommentar: Gerd Weismann Kretschmann, Seehofer, Strobl vor Ort. Große Worte von großen Leuten: «Gewaltorgie», «ungehemmter Gewaltausbruch», «Gewaltexzess» ...

Mein Unverständnis dabei ist: Es gibt so viel Gewalt in dieser Gesellschaft, aber selten lassen sich Politiker vor Ort sehen und noch seltener verlieren sie so kräftige Worte dazu. Darüber liegt der Mantel des Schweigens und der Duldung, denn diese Form der Gewalt ist systemimmanent und wir dürfen bekanntlich alles, nur eben nicht das System in Frage stellen. Mit dieser Art Gewalt müssen wir leben, damit haben wir uns zu arrangieren. Nur einige Beispiele:

Das ist Gewalt:
13 Millionen Menschen in Deutschland leben in Armut, das ist brutale Gewalt.
2,55 Millionen arme Kinder gibt es in Deutschland, das ist brutalste Gewalt.
650.000 Menschen im Land haben kein Dach über dem Kopf, das ist exzessive Gewalt.
Wenn Eltern zu arm sind, um ihren Kindern ein Essen für die Schule mitgeben zu können, dann ist das erlebte Gewalt.
Gewalt ist:
− eine Miete zu zahlen, die die Hälfte des Lohns auffrisst,
− zwei Jobs haben zu müssen, um über die Runden zu kommen,
− ein Arbeitslosenheer gegen sich zu haben, das als Lohndrücker funktioniert,
− vor die Tür gesetzt zu werden, weil der Arbeitsplatz wegrationalisiert wird,
− selbst aus dem Rennen und damit eine/r von 2,5 Millionen Arbeitslosen zu sein,
− vom HARTZ IV Regelsatz, d.h. von 432 Euro im Monat leben zu müssen, das ist erlebte, brutale Gewalt.

Gewalt ist, hunderte Bewerbungen zu schreiben und keine Antwort zu erhalten und damit ständig das Gefühl vermittelt zu bekommen nichts wert zu sein, das ist Gewalt.
− Gewalt ist, als Jugendlicher keine Perspektive auf Zukunft zu haben.
− Gewalt ist, wenn dir bei deiner «Qualifikation» auf dem Arbeitsmarkt nur die Wahl bleibt bei Tönnies im Akkord Fleisch zerlegen oder bei Aldi und Lidl Regale einräumen, d.h. für irgendwelche Milliardäre den Lohnsklaven zu spielen.
Zynische Gewalt ist, dem Pflegepersonal Beifall zu klatschen, aber an den Bedingungen im Gesundheitswesen weiterhin nichts verändern zu gedenken. − Gewalt ist, wenn Du studiert hast und dich dann nur noch von Praktikum zu Praktikum hangelst, weil Dich keiner braucht, weil der Markt mit Akademikern gesättigt ist.

Aktuelle Zahlen zur Verbreitung psychischer Erkrankungen in Deutschland bei Erwachsenen zwischen 18 und 79 Jahren zeigen, dass nahezu jede vierte männliche (22,0  Prozent) und jede dritte weibliche (33,3  Prozent) erwachsene Person zumindest zeitweilig unter voll ausgeprägten psychischen Störungen leiden. Das ist das Ergebnis brutalster Gewalt! Arbeitsverdichtung, Überstunden, Stress, Akkord und infolge davon Alkohol, Medikamente, Suizide, Aggression in jeder Form, das alles ist Ergebnis von erlebter Gewalt.

Gewalt sind Kriegseinsätze der Bundewehr. Staatlich genehmigte Rüstungsexporte in Höhe von 1,16 Milliarden Euro, das ist exportierte Gewalt.
− die Zerstörung einheimischer Produktion durch Überflutung afrikanischer Märkte mit europäischen Billigprodukten, das ist neokoloniale Gewalt.
− Raubbau an der Natur, um die Profite zu steigern,
− Klimazerstörung aus Profitgier,
− den kommenden Generationen einen kaputten Planeten hinterlassen,
− Polizei auf Atom- und Kohlekraftgegner einprügeln lassen,
− Menschen im Hambacher Forst von den Bäumen schütteln, um an Kohle zu kommen.

− Ausgrenzung ist Gewalt.
− Menschen im Mittelmeer ertrinken lassen, das ist brutalste Gewalt.
− geflüchtete Menschen herabzuwürdigen, ist Gewalt.
− Menschen in «Rassen» einzuteilen, ist Gewalt.

Gewalt ist das Prinzip der freien Marktwirtschaft. Wer in der Konkurrenz nicht mithalten kann, wird gnadenlos vom Markt gefegt. Das ist existentielle Gewalt. Das sind Gewaltorgien, die sich täglich vor unseren Augen abspielen, aber nicht in Frage gestellt werden dürfen, weil sie zu den Spielregeln des Systems gehören.

Exzessive Gewalt ist die Massentierhaltung von Millionen von Tieren unter erbärmlichsten Bedingungen. Eine Orgie der Gewalt ist das tägliche Schlachten von z.B. 30.000 Schweinen allein nur bei dem Massenschlächter «Tönnies».

Gewalt ist aber auch, wenn Kinder und Jugendliche mit Kriegs- und Ego-Shooter- Spielen seelisch derart verkrüppelt werden, bis sie vielleicht selbst so weit sind, dass sie diese Form der Gewalt in der Stuttgarter Innenstadt nachleben meinen zu müssen. Dieser digitale, gewaltverherrlichende Drecksmüll darf aber millionenfach produziert und verkauft werden. Das ist Gewalt in der Kinderstube und das ist eine der Wurzeln für die Gewalt auf der Straße.

Das alles ist die allgegenwärtige Gewalt inmitten unserer Gesellschaft. Dazu hört man selten ein Wort von unseren gewählten Vertretern, für sie ist die Randale-Nacht frustrierter Jugendlicher in Stuttgart der Aufreger des Jahres. Für die AfD ist es willkommener Anlass auf ihren beiden einzigen Themen, der «Linksgrünversifften Antifa» und den «Flüchtlingen» herumzureiten .

Diese Gewalt ist systemimmanent. Sie ist täglich und tausendfach vorhanden. Sie betrifft die meisten von uns und sollte als Thema auf die Tagesordnung gestellt werden.


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