Leserbrief

Leserbrief „Meine Meinung“ – „Gedenkminute im Gemeinderat“

Baden-Baden, 03.02.2020, Bericht: Leserbrief In einem Leserbrief an die Redaktion nimmt goodnews4-Leserin Gertrud Mayer Stellung zu dem goodnews4-Bericht Gedenken an die in Auschwitz ermordeten Baden-Badener − Von Ida Besag bis Oskar Wolf.

«Der Antisemitismus ist ein tödliches Virus, das seit mehr als zweitausend Jahren unter uns ist», so Ronald S. Lauder am 27. Januar 2020 in Auschwitz.

Die Sitzung des Gemeinderates am selbigen Tag begann mit einer Gedenkminute. Oberbürgermeisterin Margret Mergen (CDU) bat die Anwesenden, sich im Gedenken an die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz vor 75 Jahren zu erheben, und rief dazu auf, Antisemitismus aktiv und entschieden entgegenzutreten. Eine wohlfeile Politiker-Plattitüde! Warum werden nur die Befreier bedankt (es waren russische Soldaten) und nicht die Verursacher dieser Morde erwähnt: es waren Deutsche!

«Wir alle fragen uns, wie ein kultiviertes Land, das der Welt große Literatur und Kunst und wissenschaftliche Erkenntnisse schenkte, in … einem abgrundtiefen Bösen wie Auschwitz versinken konnte.» (R. S. Lauder, a.a.O.). Wie ist der Bezug zu Baden-Baden? Frau OB Mergen verlas die zwölf Namen der in Auschwitz ermordeten Baden-Badener, ihre Anschriften und das vermutete Todesdatum. Aber: wann wurden sie geboren? Wie alt wurden sie?

Ronald S. Lauder erinnert in seiner Rede an eine Million-fünfhunderttausend Kinder, die im Holocaust umkamen. In der Werderstr. 24 war das Israelische Erholungsheim für Frauen und Mädchen. Das leitende Ehepaar Lina geb. Katz und Ludwig Geismar wurden abgeholt und umgebracht. Die Familie Fried: Hans und Johanna, Anna und Emil, Frieda und Sigmund, Marianne, Dr. Eugen und Clara Baer wurden als Juden erst enteignet, dann nach Gurs in Frankreich deportiert. Hans Fried wurde nach Auschwitz gebracht und ermordet. Ihre Wohnung war die Villa Roosevelt, Kaiser-Wilhelm-Str. 1, seit Beginn der 1940er Jahre Hauptquartier der Baden-Badener Gestapo.

Da gibt es hier und heute eine besondere Nachbarschaft, quasi einen Sprung auf die andere Straßenseite zur Werderstr. 2: den Platz der jüdischen Synagoge als Notbehelf, vermietet von der Bäder- und Kurverwaltung Baden-Württemberg. Die Synagoge soll einen neuen, würdigen Standort bekommen – an der Fürstenbergallee. Diese Idee ist an Geschmacklosigkeit und seelischer Kälte nicht mehr zu überbieten. Die Baden-Badener Juden führte der Transportweg nach Dachau durch diese Straße.

Wo gehört nun die neue, wiedererbaute Synagoge hin? Auf ihren angestammten Platz in der Stephanienstr. 5! Dort stand sie, bevor sie niedergebrannt wurde, auch von der SS in Zivil. Die Verlegerfamilie Hambruch-Ertl-Piesker-Richters beharrt bisher auf dem Besitz des Grundstückes, dessen Erwerb rechtlich dubios ist und schändlich als Parkplatz für die Zeitungsmitarbeiter genutzt wird.

Seit einiger Zeit macht das «Badische Tagblatt» in «jüdischen Belangen und Berichten». Soll das eine Art «Reinwaschung von eventueller Mitschuld an früheren Nazi-Verstrickungen» sein? Ist es hier wie bei Jean Paul Sartres «Geschlossene Gesellschaft»: «Die Hölle, das sind die anderen.»? So auch der Artikel am 28.1.2020 im BT: «Freiheitliches Europa als Antwort auf Auschwitz.» Ronald S. Lauder: «Und als alle europäischen Juden die Welt um Hilfe baten, um einen Zufluchtsort, ließ die ganze Welt sie im Stich.»

Worum ging es in der Gedenkveranstaltung am Augustaplatz: um Reinigung von insgesamt 179 Stolpersteinen in der Stadt. Diese sollen an die Namen der ermordeten Juden erinnern. In Koblenz sah man 1986 diese Art von Erinnerung anders. Die jüdische Kultusgemeinde lehnte einen Gedenkstein an der ehemaligen Synagoge auf dem Bürgersteig ab, da man auf eine solche Gedenktafel nicht treten solle. Die Baden-Badener, hier die Theaterintendantin Nicola May, ist «froh, immer wieder Gelegenheit zu haben, sich politisch zu engagieren». Quintessenz: Politisches Engagement ist, Gedenksteine zu putzen! Ist das der Bildungsauftrag eines Theaters, das dafür mit Steuergeldern der Bürger finanziert wird? Frau May nimmt jetzt ein bezahltes Sabbatjahr (ein jüdischer Begriff!). Will sie sich danach doch breiter politisch engagieren?

Was sagt ihre Kulturdezernentin dazu, in Personalunion auch Oberbürgermeisterin? Vielleicht nimmt diese auch das sog. «Sabbatical», und die Stadt hätte eine Chance, wieder in Ordnung zu kommen. Im Gemeinderat würden dann sinnvolle Prioritäten gesetzt: eine Minute für Gedenken und Stolpersteine, dann weitere Diskussionen über die Pflastersteine, das ist zu wenig! Stadtrat Pilarski (FDP) wurde das Wort verboten, angeblich nach der Geschäftsordnung. Aber später musste sich die Oberbürgermeisterin dafür entschuldigen.

Nur kleine Spitzen eines Eisbergs. Aber die Führung einer Stadt und ihrer Verwaltung erfordert mehr als technokratisches Wissen, vielleicht auch Empathie und Phantasie. In zwei Jahren ist ein neuer Oberbürgermeister für Baden-Baden zu wählen. Margret Mergen wird dann nicht alternativlos bleiben, oder?

Gertrud Mayer
Baden-Baden


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