Gastkommentar

Ein perfekter Sonnentag auf dem Leopoldsplatz – „Hey, geht’s noch? G’heert des Ding jetz der ganze Dag ihne?“ – Gastkommentar von Helmut Höfele

Ein perfekter Sonnentag auf dem Leopoldsplatz – „Hey, geht’s noch? G’heert des Ding jetz der ganze Dag ihne?“ – Gastkommentar von Helmut Höfele
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Bild Helmut Höfele Gastkommentar von Helmut Höfele
29.06.2021, 00:00 Uhr



Baden-Baden In unregelmäßigen Abständen veröffentlicht goodnews4.de Beiträge von Gastkommentatoren. Zum engeren Kreis gehören der Baden-Badener Bestsellerautor Franz Alt und Thomas Bippes, der sich insbesondere den Themen der Digitalisierung, IT und Künstlichen Intelligenz zuwendet.

Helmut Höfele ist im Ooswinkel in Baden-Baden geboren und aufgewachsen und war zuletzt Erster Polizeihauptkommissar und Revierführer in Titisee-Neustadt.

Kommentar: Helmut Höfele Ein perfekter Sonnentag auf dem Leopoldsplatz, 25 Grad, leichter Wind und ich habe eine der neuen, drehbaren Liegen ergattern können. Der Eine-Million-Mark-Brunnen plätschert gleichmäßig vor sich hin. Vor knapp 30 Jahren floss das erste Mal Wasser aus dem Brunnen. Lange her. Ich überlege, wie oft ich wohl in der 60er Jahren mit dem Fahrrad über den Leopoldsplatz fuhr, auf meinem Weg ins Markgraf-Ludwig-Gymnasium und wieder zurück nach Hause. Noch länger her.

Ich merke wie ich langsam eindöse und werde erst wieder durch ein lautstarkes Gebimmel aufgeweckt.

Ich öffne die Augen und merke: Irgendwas hat sich verändert. Die Luft ist nicht mehr die gleiche, ich höre weder Brunnenrauschen noch das Brummen der Busse. Aber es bimmelt immer noch. Ich drehe mich um und sehe mitten auf dem Platz eine Straßenbahn stehen. Zwei Wagen. Cremefarben sind sie mit dunkelbrauner Holzverkleidung unterhalb der drei Fenster. Im Fensterinnern sind gelbe Sonnenrollos angebracht. Frauen, Kinder und Männer steigen aus und ein. Auf dem Trittbrett des ersten Wagens steht ein Schaffner in Uniform, Schnauzbart und Mütze. Er schaut mich an und ich stelle überrascht fest, dass er aussieht wie mein Opa. Mütterlicherseits. Ich kenne ihn nur von Bildern, er starb zwei Monate bevor ich geboren wurde.
Wolfgang Ambros, der Wiener Liedermacher, mit seinem Schaffnerlied kommt mir in den Sinn.

Schaffner sei
Des woar amoi wos
Die Zeit is vorbei
Des is des Schaffnalos
Schaffner sei
Des woar amoi wos
Die Zeit is vorbei
Heit foahr ma schaffnalos

Mein Opa winkt mich zu sich. Ich stehe auf, gehe zu der Straßenbahn und stelle mich neben ihn im hinteren Teil des Wagens. Ruckelnd fährt die Bahn los, bimmelt wieder und fährt Richtung Augustaplatz. «Noch jemand zugestiegen? Die Fahrscheine bitte», höre ich die fordernde dunkle Bassstimme meines Großvaters. Ja, sie würde zu dem stattlichen Mann passen, den ich von alten schwarz/weiß Bilder und Erzählungen kenne. Er strahlt Autorität aus und wird respektiert, die Kinder und Jugendlichen ducken sich ängstlich weg oder machen sich klein. Passt. Ich wusste, mit ihm war nicht «gut Kirschen essen». Während des Essens zu Hause durfte nicht gesprochen werden, sicherheitshalber und um das zu unterstreichen, hing ein Ochsenziemer an seiner Stuhllehne in der Küche. Seine Frau und die drei Töchter hatten gelernt seine Stimmungen einzuschätzen. Klare patriarchalische Rollenverteilung. Das Recht ging vom Vater aus, er war der Stammesführer. Kein Widerspruch, nein, auch keinen Mucks. Etwa 100 Jahre ist das jetzt her, es hat sich viel geändert. Zum Glück.

Als er wieder von seinem Kontrollgang zurückkommt, schaut er mich an. Erkennt er mich irgendwie? Eine Fahrkarte will er nicht sehen. «Wo kommen Sie denn her?», fragt er mich barsch und schaut mich misstrauisch von oben bis unten an. «Von auswärts», verbiege ich ein bisschen die Wahrheit und denke an meine Klamotten, die wohl nicht so recht in diese Zeit passen. «Wir haben keine Straßenbahn, da wo ich herkomme», füge ich hinzu. «Wir schon, seit dem 24. Jänner 1910, der Eröffnungstag fand am Leopoldsplatz statt», zeigt er mit dem Daumen nach hinten. «Hunderte Menschen hatten sich versammelt, kalt war’s.»
«Aber da war ich noch nicht dabei und es hat sich einiges geändert in den letzten Jahren», erzählt er weiter. «Wir haben jetzt 11,3 Kilometer eingleisig und 3,2 Kilometer zweigleisig. Unsere Bahn fährt vom Bahnhof in Oos über die Rheinstraße bis fast nach Oberbeuern. Am Leopoldsplatz kann man umsteigen bis zur Merkurbergbahn oder nach Tiergarten in die andere Richtung», brummelt er vor sich hin. «Und vor der Straßenbahn?» frage ich neugierig geworden. «Was war da?»
«Nichts. Die Kurgäste hatten eigene Kutschen oder mieteten einen Fiaker, wenn sie genug Geld hatten. Und es gab einen Pferdeomnibus durch die Stadt, der fuhr dreimal täglich. Ansonsten musste man laufen, mit und ohne Gepäck. Aber 1845 fuhr der erste Dampfzug vom Bahnhof Oos zum Bahnhof Baden-Baden. Die Stadt hatte die erste von einer Hauptstrecke abzweigenden Bahn. Die erste in ganz Deutschland. Es gab Kurswagen nach Paris und Berlin», nickt er stolz vor sich hin. «Der alte Stadtbahnhof war früher aus Holz, aber schon seit 1895 nicht mehr. Ich muss jetzt aber die Fahrscheine kontrollieren.»

Erst jetzt bemerke ich, dass wir bereits am Brahmsplatz angekommen und schon auf dem Rückweg sind. Mein Sitzplatz ist natürlich aus Holz, aber nicht unbequem. Draußen geht alles ruhig und betulich zu. Die Frauen tragen Kleider mit tiefsitzender Taille, Flapper Dresses, knielang und gerade geschnitten, teilweise mit Fransen. Auf dem Kopf Wasserwelle oder Bubikopf und Hüte jeglicher Form. An den Füßen oft Schuhe mit Ristspangen und Absatz, sogenannte Mary Janes.
Ich sehe drei Frauen mit Kinderwagen aus Korbgeflecht mit Speichenräder. Unhandliche Ungetüme, die sie über die Straße bugsieren.
Jungs in kurzen Hosen, Kniestrümpfe und knöchelhohen Schnürstiefel, Mützchen. Die Mädchen tragen einfache Kleidchen, kariert, weiß oder bunt. Und dahinter rennt ein kleiner Junge in einem dunkelblauen Matrosenanzug. Und das in Baden-Baden.
Die Männer tragen Anzüge, teilweise als Dreiteiler mit Uhrenkette. Hemden mit Kläppchenkragen. Ich beobachte Männer mit Knickerbocker und karierten Strümpfen, Fliege oder Krawatte oder offenes Hemd. Aber immer mit Hut oder Schirmmütze, die Haare meist streng zurückgekämmt. Manch einer trägt einen Stresemannanzug. Der gut gekleidete Mann trägt meist schwarze Halbschuhe, stelle ich fest.
Aber neben einem Haus ins der Gernsbacher Straße bemerke ich einen bettelnden Kriegsinvaliden. Arbeitslose Männer gehen scheinbar ziellos durch die Straßen mit einem alten Kittel mit Schal und einer abgewetzten Hose bekleidet, mager, unsteter Blick. Und wenn ich genauer hinsehe, dann fallen mir immer mehr auf.

Zurück auf dem Leopoldsplatz sehe ich nun auf der rechten Seite, dass das Victoriahaus ein Hotel beherbergt, im Erdgeschoss ist ein Café untergebracht. Rot-weiße Markisen bedecken die Balkone.
Das Denkmal von Großherzog Leopold von Baden steht in majestätischer Größe mitten auf dem Platz, Büsche und Sitzbänke daneben.
Nun sehe ich auch die Straßenbahnschienen in die Sophienstraße in Richtung Merkur und in die entgegengesetzte Richtung zum Theater sind auch Schienen.
«Das kurze Stück ist für die Theaterwagen», sagt mein Schaffneropa ohne dass ich ihn gefragt hatte. «Damit die hohen Herrschaften nicht zu Fuß gehen müssen.»

Wir biegen nun zwischen Victoria-Hotel und Sinner Eck in die Lange Straße ein. Die Straßenbahnschienen verlaufen auf der rechten Seite. Direkt vor der Häuserfassade, es ist ganz schön eng. Vorbei am Hotel Drei Könige, der Alten Apotheke, herrschaftlichen Häuser, dem Thermal-Badehaus und einem Achsenmachergeschäft. Ich sehe Mode- und Hutgeschäfte, eine Schuhmacherei und einen Frisör. Ein Spielzeugladen und ein Café fällt mir in den Blick. Der Straßenbahnführer muss oft und laut bimmeln, um die Menschen zu warnen oder von der Straße zu scheuchen.
Durch eine Allee fahren wir weiter Richtung Stadtbahnhof.
«Da, sehen Sie. Dreigleisig. Vor dem Stadtbahnhof. 1895 eingeweiht, der Bahnhof» mit diesen Worten setzt mein Reiseführer sich neben mich. «Wir befördern etwa 5 Millionen Fahrgäste pro Jahr, 7,5 bis 15 Minuten Takt auf der Tallinie, 15 bis 30 Minuten auf der Berglinie.»
«Neorenaissance», deutet er auf das Bahnhofsgebäude. «Und ein bisschen Barock. Der Sandstein kam aus dem Murgtal und die ganze Dekoration dürfte ein Drittel der Baukosten ausgemacht haben. Dafür hat das Gebäude noch ein Fürstenzimmer. Wer’s braucht», winkt er kopfschüttelnd ab.

Droschken sehe ich, Handkarren und Gepäckwagen, die auf Reisende mit großem Gepäck warten. Eine massiv gusseiserne Laterne steht vor dem Bahnhof und riesige Kastanienbäume neben dem Gehweg auf der rechten Seite.
Im Blick eine Allee und Bäume rumpelt die Bahn in Richtung Rheinstraße nun etwas schneller und lauter. Eine Straße mit dörflichem Charakter, die Bernharduskirche sehe ich rechter Hand, ich bemerke Landbevölkerung, Pferdekarren, Bauernhäuser und Viehställe.
Weiter geradeaus, ein Sägereibetrieb, holzverarbeitende Betriebe, Schlossereien, ein Scherenschleifer kommt mit seinem Karren aus einer Gasse. Auffallend viele Kinder rennen alleine umher. Ihre Mütter versuchen sich in Nähereien oder mit Feldarbeit etwas hinzuzuverdienen, die Kinder müssen helfen, wo es geht. Viele Männer waren im Krieg gefallen. Alle Mädchen mit Bubikopf und Kleidchen, die Jungen kurze Hosen, Hemd, alte Schuhe. Hier sah man keine Bettler. Von wem sollten sie auch etwas bekommen?

Weiter in Richtung Oos. Felder, Gras, Kartoffeläcker, in der Ferne eine Kirche mit spitzem Turm.
Der Kopf neigt sich zum Fenster, ich schließe für einen kurzen Moment die Augen.

«Hey, geht’s noch? G’heert des Ding jetz der ganze Dag ihne?» Ich schreckte auf. Vor mir stand ein Mann mittleren Alters und deutete auf mich. Ich lag auf einer drehbaren Liege und schaute etwas benommen. Ich musste wohl eingeschlafen sein.
«Entschuldigung», murmelte ich vor mich hin und stand auf. Ich drehte mich um, sah zwei grün/gelbe Busse über den Leopoldsplatz fahren, am Brunnen spielten drei Kinder, gut bewacht von ihren Eltern, und da vorne war die Fieser Brücke noch immer abgesperrt, ein Handy dudelte irgendeinen Klingelton.

In der Wirklichkeit wieder angekommen, fragte ich mich, weshalb es eigentlich keine Straßenbahn mehr in Baden-Baden gibt. Das wäre doch die Attraktion. Vom Ooser Bahnhof durch die Innenstadt, elektrisch, green city. Wie die electricos in Lissabon, die seit 1873 existieren, legendär, und vor allem bei Touristen beliebt.
Was war geschehen? Man hatte sogar Verlängerungen der Strecke über Staufenberg nach Gernsbach und von Lichtental nach Geroldsau geplant. Zunächst musste man nach einem Unfall und schlechter Gleise nach 1940 die Berglinie ab Friedrichshöhe einstellen. Nach Kriegsende mussten jährlich über 10 Millionen Menschen auf schlechten Gleisen mit einem Wagenpark voller Mängel transportiert werden. Das bedeutete, dass die Gemeinde Baden-Baden vor der Entscheidung stand, die Gleise und die Fahrzeuge fast komplett auszutauschen oder aufzugeben. 1949 entschloss man sich als Ersatz einen Obus einzusetzen, am 27. Februar 1951 fuhr der letzte Straßenbahnwagen. Jahrelang danach waren noch Teile der Gleise in den Straßen zu sehen. Erst nach und nach wurden sie schließlich vollständig beseitigt.
Zu den Jubiläumsfeierlichkeiten im Juli 2010 wurde ein Originalwagen nach Baden-Baden gebracht, er fuhr damals noch als «Münsterbähnle» in Ulm.

Schaffner sei'
Des woar amoi wos
So wird's nie wieda
Des is des Schaffnalos
Schaffner sei'
Des woar amoi wos
Es kommt nie wieda
Des is des Schaffnalos


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