Gastkommentar

Oh Ooswinkel – Gastkommentar von Helmut Höfele

Oh Ooswinkel – Gastkommentar von Helmut Höfele
Der Ooswinkel in der Baden-Badener Weststadt. Foto: Archiv

Bild Helmut Höfele Gastkommentar von Helmut Höfele
08.06.2021, 00:00 Uhr



Baden-Baden In unregelmäßigen Abständen veröffentlicht goodnews4.de Beiträge von Gastkommentatoren. Zum engeren Kreis gehören der Baden-Badener Bestsellerautor Franz Alt und Thomas Bippes, der sich insbesondere den Themen der Digitalisierung, IT und Künstlichen Intelligenz zuwendet.

Heute veröffentlichen wir den ersten Gastkommentar von Helmut Höfele, der im Ooswinkel in Baden-Baden geboren und aufgewachsen ist. Zuletzt war unser Gastkommentator Erster Polizeihauptkommissar und Revierführer in Titisee-Neustadt.

Kommentar: Helmut Höfele Ein Besuch in meiner Heimatstadt ohne eine Runde durch den Ooswinkel. Im Läbe ned. Klar, nicht jedes Jahr, aber ich kenne mich noch aus.

In den 50er und 60er Jahren dort groß geworden, heute nennt man das sozialisiert. Oosbachbaden im Sommer und nasse Füße im Winter, wenn das Eis noch nicht trug. Große Wiese gegenüber, wo früher das Caritasheim war, riesengroßes Bolzgelände, Torpfosten aus Heu. Der Wald mit einer großen Höhle als Treffpunkt für die Freunde, Gässle zum Versteckspielen, Schlittenfahren im Tiefenloch, im neuen Aumattstadion nach dem SC-Spiel verbotenerweise auf ein Tor kicken bis es dunkel wurde. «Super die Netze hängen noch.» Ein amtierender Stadtrat hat dabei seine Armbanduhr geschrottet. Der Platzwart verfolgte uns im Dunkeln mit seinem Moped. Alles verjährt. Später Gumpenfeste, erstes Auto. Erwachsenwerden. Verklärte Kindheit und Jugend, schon klar. Es war trotzdem toll, möchte keinen Tag missen.

Cut/Blende. Heute. Anfang Juni. Sommerwetter, blauer Himmel. Meine Frau und ich fahren mit unserem Auto von der Brücke in die Schwarzwaldstraße. Hui, super Idee, da war das Depot einer Schilderfirma ausgelastet und man hat kurzerhand Schilder entlang der Straße hingestellt. Mit Wohnausweis, ohne Wohnausweis, 2 Stunden, 3 Stunden. Und endlich hat die Verwaltung auch was für den Radwegeausbau gemacht. Ihn zugeteert. Geniale Idee. Straße bleibt breit wie bisher, Autos können parken, Radfahrer*innen können auch parken. Grübelzwang überkommt mich. Nö, hat doch bestimmt ein System, nicht ganz klar, aber hat ganz sicher ein System. Das muss durchdacht sein so ein System. Später erfahre ich, dass die Ooswinkler*innen mit Auto (oder heißt es Ooswinkelnden) neuerdings 30 Euro pro Jahr für einen Anwohnerparkplatz bezahlen. Früher war das kostenfrei oder umsonst. Ist das schon eine Art vorgezogene Luftreinerhaltungssteuer, Reichensteuer oder Co2-Umlage? Man weiß es nicht.

Doch, man weiß. Anwohner hatten protestiert, dass Fahrzeugbesitzer aus einer nahegelegenen Firma jenseits des Zubringers ihre Fahrzeuge im Ooswinkel parken. Klarer Verstoß gegen gute Sitten, Gewohnheitsrecht und überhaupt: geht ja gar nicht. Parkplätze nur für Bewohner mussten her.

Motto: Ooswinkel den Ooswinkler*innen. Man hat abgestimmt und siehe da: lieber zahlen alle 30 Euro als dass ein Fremder ab und zu parkt. Und die Schilderfirma hat auch was davon. Nimm das Nichtooswinkler.

In Freiburg hat der Gemeinderat übrigens beschlossen, dass nicht wie bisher 36 Euro pro Jahr, sondern 360 Euro für einen Anwohnerparkplatz zu bezahlen sind, wohlgemerkt in der Innenstadt. Green City. Liegt im Rathaus am Marktplatz bestimmt schon auf Wiedervorlage.

Glücklich ein Parkplatz beim alten Bahnwärterhäuschen gefunden. Da stand ich früher an der Bahnschranke und habe mit großen Augen der Dampfeisenbahn zugeschaut, die Richtung Bahnhof Baden-Baden und zurück geschmaucht ist. Klarer Fall von Umweltsau, ich bekenne mich schuldig, wie konnte ich nur so gedankenlos sein? Der Bau des Zubringers fiel auch noch in meine Zeit, aber dafür fuhr ich mit einem Fahrrad zur Schule, meine Eltern hatten keinen SUV.

Der alte Bauhof ist abgerissen, das wusste ich, das neue Wohngebiet kannte ich noch nicht. Ja gut, denke ich, so baut man heute. Barrierefrei, Aufzüge, kleiner Kinderspielplatz, Garten oder Loggia, Veranstaltungsraum, die Wohnungen an der Oos entlang ein bisschen präsentiertellermäßig. Schön angelegt, der Weg entlang der Oos gepflegt. Der Quadratmeterpreis ist für Baden-Baden tadellos.

Aber wo nur ist das alte Kassenhäuschen vor der Brücke zum Stadion? Fort, weg. Die Brücke marode, Abriss wohl zu teuer, daher Sperrgitter. Ich tröste mich. Das Kassenhäuschen steht bestimmt im SC-Museum zwischen all den Pokalen. Das letzten Hoch des Vereins liegt nun auch 60 Jahre zurück. Aufstiegsrunde zur 2. Liga, ein Punkt hat gefehlt. Was hätte sein können? Duisburg, Essen, Bayer Leverkusen. Dafür heute Ottersweier, Altschweier, Neusatz. Aber wenn Baden-Baden mit Rastatt fußballfusionieren würde: ein halber neuer Stadtteil direkt an der Oos könnte entstehen, die Strafräume wären die Grünanlagen, Parkplätze beim Aumatt sind schon vorhanden. Ich schweife ab.

Der Dr.-Groddeck-Weg führt uns entlang der idyllischen Oos.

Cut/Blende. Kamera ab. Kamera fährt über riesige Flächen von hohen Gräser, Brennnesseln, wilder Rhabarber, Steintreppen sind vollkommen zugewachsen, ein kleines Flüsschen kann nur mit militärtaktischem Outfit erreicht werden. Überquellende Mülleimer. Zombieland, Mad Max. Ein Müllwagen brettert um die Ecke. Als sich der Staub legt merken wir: Nix mit neuem Endzeitpopkornkinofilm. Alles echt.

Ooswinkel! Was ist los? Ein Projekt mit dem Titel «Baden-Baden, back to nature». Das sieht aus wie Sau. Da bekommt das Auge trotz neuer blauer Tartanbahn ums Aumattstadion eine Makuladegeneration. Würde ich heute meinen Bekannten zeigen wollen wo ich aufgewachsen bin? Müdes Grinsen.

Und kommt mir jetzt keiner mit gefährlicher Abhang, nasses Wasser, versicherungstechnische Gründe und Gemeindeverordnung Paragraph schießmichtot. Meine Kumpel und ich haben alle überlebt. Die Sommer waren heiß, die Winter kalt und schneereich. Alles vorbei und nur weil ich die verdammte Dampflok nicht aufgehalten habe. Ist das hohe Gras mit Brennnessel jetzt die Rache der Natur oder einfach nur «wen juckt schon der Ooswinkel und wo ist der überhaupt?»

Vorne am Knick des Bachlaufs hat wohl eine Privatinitiative Gras gerodet und tatsächlich, da spielen 2 Kinder.

Wir schauen uns in den Gässchen um. Fast in jedem Garten oder Gärtchen eine Hütte. Manche fürs Gartengerät, viele halboffen zum Sitzen, manche gepflegt, einige verranzt. Grenzmäuerchen sind eingefallen, alles ist eher zweckgebunden eingerichtet. Alte Fahrräder, Baumüll, ein Garten total mit Brennnessel verwachsen, in der Mitte steht ein Rasenmäher, Baujahr 2011. Idylle geht anders. Die Häuser selbst, einige schön verputzt, andere wiederum hätten es wohl noch nötig. Sicher alles nicht einfach bei einer 100jährigen Bausubstanz. Und alles unter Denkmalschutz. Und wer bezahlt überhaupt. Cut/Blende. Kamera ab. Juni 2071. Kamera schwenkt über einen Konferenzraum. 7 Frauen und 3,5 Männer (die Quote) sitzen an einem langen Tisch. Pläne sind ausgebreitet. Bauherr*innen, Architekt*innen, Oberbürgermeister*in, ein russischer Oligarch, ein chinesischer Investor, ein Scheich*in. In der Ecke Kaviar, Dom Perignon, Sushi, Mapo Tofu, Algenkonzentrat, Bachblütentee.

Sprachfetzen sind zu vernehmen: «…fällt uns noch alles zusammen, …so alte Bausubstanz kann man nicht mehr erhalten,…aber der Denkmalschutz…erheiterndes Lachen…. und die Rattenplage wächst uns über den Kopf…dann ist der Abriss also beschlossene Sache?» ...alle nicken…

Der Chinese tippt etwas in seine Handfläche, der Rest reibt sich die Hände. Kamera schwenkt über Baupläne, Überschrift «Wohnen wie Wladimir». Häuser mit umlaufenden Pools, Glasfronten, grüne Architektur, 8 Stockwerke, Penthousewohnungen, Hubschrauberlandeplatz auf der ehemaligen Konsumwiese. U-Bahnanschluss am Gumpen.

Kamera schwenkt langsam wieder nach oben und aus dem Konferenzraum. Im Empfang der ehemaligen Baugenossenschaft steht in einer gut gesicherten Glasvitrine ein alter Rasenmäher, Baujahr 2011.

Wir fahren nachdenklich nach Hause.


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