Erfahrungsaustausch in Berlin

Winfried Kretschmann blickt auf 12 Jahre „Politik des Gehörtwerdens“ – Grüne Politik in Baden-Baden nicht angekommen

Winfried Kretschmann blickt auf 12 Jahre „Politik des Gehörtwerdens“ – Grüne Politik in Baden-Baden nicht angekommen
Vor zwölf Jahren führte Ministerpräsident Winfried Kretschmann die „Politik des Gehörtwerdens“ ein. Foto: Archov

Bild Nadja Milke Bericht von Nadja Milke
31.03.2023, 00:00 Uhr



Stuttgart Von den derben Tönen deutscher Stammtische ist nicht viel auf Medien gespeichert. Vielleicht ist das der Grund, dass die Pöbeleien und Tiraden in den sozialen Netzwerken als eine neue Qualität des Umgangs miteinander wahrgenommen werden.

Bundestagspräsidentin Bärbel Bas hielt gestern nicht nur eine Begrüßungsrede für König Charles III, sondern auch für Winfried Kretschmann in der baden-württembergischen Landesvertretung in Berlin. «Unsere Debatten werden immer hitziger geführt. Gerade in den sozialen Medien fallen bei manchen alle Hemmungen. Je derber der Tonfall, desto größer oft die Aufmerksamkeit – und desto lauter der Beifall», kritisierte sie den Umgangston unserer Tage. «Bürgerräte dagegen schaffen einen Raum, in dem sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer respektvoll austauschen können», applaudierte sie dem baden-württembergischen Ministerpräsidenten, der zwölf Jahre seiner Politik des «Gehörtwerdens» feierte. Während sich die Baden-Badener Grünen schwer tun, den Ideen des Ministerpräsidenten zu folgen, springt dieser dann auch schon mal ein für seine grünen Mitstreiter an der kommunalpolitischen Basis.

ZUM THEMA

“Winfried

Winfried Kretschmann über Corona-Zweifler, AfD, Künstliche Weisheit und die Macht der Oberbürgermeister – "Durchgriffsrecht in die ganze Verwaltung, davon kann ich als MP nur träumen"

In der Landesvertretung Baden-Württemberg Berlin teilte Winfried Kretschmann gestern Abend seine Erfahrungen mit der «Politik des Gehörtwerdens».

Die Mitteilung aus dem Staatsministerium Baden-Württemberg im Wortlaut:

«Eine Politik des Gehörtwerdens brauchen wir in all den großen Transformations-Prozessen, in denen wir uns befinden: beim Klimawandel, bei der Energiewende und bei der Digitalisierung. Denn diese gewaltigen Transformationen können nur mit den Menschen gelingen, nicht gegen sie. Und die Bürgerbeteiligung hilft uns dabei», sagte Ministerpräsident Winfried Kretschmann bei der Veranstaltung «Wie Bürgerräte Demokratie stärken. Erfahrungen aus der Politik des Gehörtwerdens» am Donnerstag in der Landesvertretung Baden-Württemberg in Berlin. «Die Politik des Gehörtwerdens ist inzwischen ein echtes Markenzeichen Baden-Württembergs. Sie gehört schon fast so zum Land wie der Daimler oder der Schwarzwald», so der Ministerpräsident.

 

Mit den geplanten Bürgerräten seien nun auch auf Bundesebene neue Formate der Bürgerbeteiligung angekommen, so Kretschmann. «Die Bundestagspräsidentin hat diesen Ball gleich bei ihrem Amtsantritt aufgenommen und kraftvoll weitergespielt. Weil sie erkannt hat, dass die Menschen zwar die Demokratie als Idee schätzen, aber viele von der Praxis enttäuscht sind und dass die Menschen zwar von den Entscheidungen betroffen sind, aber viele gar nicht von den Debatten erreicht werden.»

Nach zwölf Jahren der «Politik des Gehörtwerdens» wurden auf der Veranstaltung am Donnerstagabend in Berlin die Erfahrungen Baden-Württembergs mit der dialogischen Bürgerbeteiligung dargelegt und der Frage nachgegangen, wie Bürgerräte die Demokratie stärken können. Bundestagspräsidentin Bärbel Bas sagte in ihrer Rede: «Bürgerräte haben das Potenzial für gute Entscheidungen, weil die Bürgerinnen und Bürger häufig außerhalb der eingefahrenen Bahnen denken.» Das deliberative Format erhöhe die Chance auf ausgewogene und breit-akzeptierte Vorschläge. «Unsere Debatten werden immer hitziger geführt. Gerade in den sozialen Medien fallen bei manchen alle Hemmungen. Je derber der Tonfall, desto größer oft die Aufmerksamkeit – und desto lauter der Beifall. Bürgerräte dagegen schaffen einen Raum, in dem sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer respektvoll austauschen können.» Schon jetzt gebe es viele Beratungsgremien – von Enquete-Kommissionen bis hin zum Deutschen Ethikrat. Nun werde zusätzlich die Perspektive der Bürgerinnen und Bürger gestärkt. Die Bundestagspräsidentin sagte: «Ich freue mich, dass nahezu alle Bundestagsfraktionen Bürgerräte unterstützen und die Einsetzung eines Bürgerrates noch vor der Sommerpause vereinbart haben. In der Bundestagsverwaltung arbeitet bereits seit einigen Monaten ein Aufbaustab mit viel Energie an der organisatorischen Umsetzung. Wir greifen dabei auch auf die Erfahrungen in Baden-Württemberg zurück.»

Die dialogische Bürgerbeteiligung bringe viele Vorteile, betonte der Ministerpräsident: «Es werden Hürden abgebaut und Brücken gebaut. Weil Hintergründe erklärt und die Sachen verständlich formuliert werden und weil auch die eine Stimme im Prozess kriegen, die sich oft übersehen, nicht gehört fühlen.» Dabei würden auch die Regierenden durch mehr Transparenz, Akzeptanz und Legitimität von diesem Prozess profitieren. Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung Barbara Bosch ergänzte, dass man den sogenannten Zufallsbürgern und -bürgerinnen in den Bürgerräten zutrauen könne, sich auch mit sehr komplexen Themen auseinanderzusetzen, Pro- und Contra-Argumente sachlich abzuwägen und in einen Gesamtzusammenhang zu stellen. «Es kommen nach kontroversen Debatten stets Empfehlungen zustande, die sich konkret auf ein Vorhaben beziehen und damit die Planung sogar qualitativ verbessern können», so die Staatsrätin. «Mitwirkung an der Basis, direkt und mit großer Offenheit, das ist das, was sich viele wünschen. Doch bürgernahe Politik muss mehr als nur gut gemeint sein. Sie muss gut gemacht, klug moderiert und richtig organisiert werden. Sonst kippt das Vorhaben und erzeugt Verdruss», betonte Staatsrätin Barbara Bosch, die in ihrer Rede einen umfassenden Einblick in die Praxis der Bürgerbeteiligung in Baden-Württemberg gab. Dabei seien vor allem Verfahrensklarheit und Wahrheit wichtig, sowie vorhandene Ängste wahrzunehmen, offenzulegen und gegebenenfalls nachvollziehbar zu widerlegen, so die Staatsrätin.

Neben den drei Vortragenden sowie Staatssekretär Rudi Hoogvliet, der die teilnehmenden Gäste als Hausherr begrüßte, nahm auch Prof. Dr. Frank Brettschneider von der Universität Hohenheim an der Veranstaltung in Berlin teil. Brettschneider berichtete von der Studie «Bürgerbeteiligung und Direkte Demokratie aus Sicht der Bürger:innen in Baden-Württemberg, 2022». Wesentliches Ergebnis sei, dass Menschen, die an gelungenen Beteiligungsverfahren teilgenommen haben, zufriedener mit der Demokratie seien und ein höheres Vertrauen in staatliche Institutionen hätten. Nehme eine Person sowohl das Verfahren als auch das Ergebnis als schlecht war, senke das massiv die Zufriedenheit und das Vertrauen in Demokratie und staatliche Institutionen, so Brettschneider.

Im Anschluss an die politischen und fachlichen Beiträge standen Prof. Brettschneider und Staatsrätin Bosch dem Publikum für Fragen zur Verfügung. Staatsrätin Barbara Bosch betonte bei der Veranstaltung: «Dialogische Bürgerbeteiligung kann Verständnis für die Schwierigkeiten mancher Abwägungsprozesse schaffen. Dass es eben nicht nur ein Ja oder Nein, schwarz oder weiß gibt, sondern auch jede Menge Grautöne, aus denen Kompromisse entwickelt werden können.»




Nadja Milke ist Redakteurin bei goodnews4.de und Mitglied der Landespressekonferenz Baden-Württemberg. Sie wohnt in der Baden-Badener Innenstadt und kennt sich dort gut aus, aber selbstverständlich auch in den anderen Baden-Badener Stadt- und Ortsteilen. Über Post freut sie sich: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!


Zurück zur Startseite und zu den weiteren aktuellen Meldungen.