Werke von Larcher, Mozart und Tschaikowsky

Gewandhausorchester mit Kapellmeister Andris Nelsons im Festspielhaus Baden-Baden - „Res severa rerum gaudium - Wahre Freude ist eine ernste Sache“

Gewandhausorchester mit Kapellmeister Andris Nelsons im Festspielhaus Baden-Baden - „Res severa rerum gaudium - Wahre Freude ist eine ernste Sache“
Kapellmeister Andris Nelsons und das Gewandhausorchester. Foto: Michael Gregonowits

Baden-Baden, 30.04.2018, Bericht: Inga Dönges Dieses ist das Motto des vor 275 Jahren von Leipziger Bürgern (!) gegründeten Gewandhausorchesters, das mit Werken von Larcher, Mozart und Tschaikowsky gastierte.

Dieses älteste bürgerliche Orchester hat sich einen neuen Gewandhauskapellmeister erwählt, der sich in die Reihe großer Vorgänger stellt: Felix Mendelssohn-Bartholdy, Wilhelm Furtwängler, Kurt Masur und Herbert Blomstedt. Dieses Konzert und Hörerlebnis zeigte die rechte Wahl des Orchesters.

Andris Nelsons wurde 1978 als Sohn einer Musikerfamilie in Riga geboren. Im Fach Trompete studierte er zunächst an der lettischen Musikakademie, anschließend am St. Petersburger Konservatorium. Gleichzeitig absolvierte er Meisterkurse im Fach Dirigieren, u.a. bei Mariss Jansons. Sein musikalischer Lebensweg führte steil nach oben. Mit 24 Jahren Chef-Dirigent der lettischen Nationaloper in Riga, ab 2014 Chef-Dirigent des Boston Symphony Orchestra. Er plant, eine Allianz zwischen Leipzig und Boston zu bilden, so dass neuer Musik ein Weiterleben jenseits der Uraufführung ermöglicht wird.

Entsprechend begann das Konzert mit einem Auftragswerk von Thomas Larcher (geboren 1963 in Innsbruck) «Chiasma». Dieser Titel aus dem Griechischen bezeichnet die Kreuzung von Nervenfaserbündeln im Auge, auch als Symbol des griechischen Buchstaben X (= chi) und soll musikalisch letztendlich die ganze Welt darstellen, sowohl mit ihrer Schönheit als auch mit ihrer Brutalität. Zehn Minuten dauerte dieses Stück, und es soll ein Weltbild musiziert werden, ist aber eher ein zeitgenössischer Mikrokosmos in seinem Chaos, ein Abbild unserer Zeit. Gefordert werden «intellektuelle wie auch emotionale Motivation» (Andris Nelsons).

Danach der Kontrast: Wolfgang Amadeus Mozart (1756 – 1791) Symphonie Nr. 40 g-Moll KV 550 trägt das Autograph 25. Juli 1788; einst gehörte es in die Sammlung von Johannes Brahms. Dieses Werk ist schillernd rezipiert worden, es hat die unterschiedlichsten, ja sogar gegensätzliche Interpretationen erfahren. Robert Schumanns bekannte Äußerung über ihre «griechisch-schwebende Grazie» scheint uns heute am Kern der musikalischen Aussage vorbeizugehen. Es ist problematisch, diese g-Moll Symphonie in Worte zu fassen, es besteht aber kein Zweifel daran, dass ihre Grundstimmung «düster, traurig, fast tragisch» zu nennen ist.

Mozart schieb diese Musik in der bedrängtesten, ausweglosesten Phase seines Lebens und sich damit das Leid «von der Seele». Nur, wie kommt es danach zu der strahlenden «Jupiter-Symphonie»? Andris Nelsons stellt an sich und auch an das Orchester den Anspruch, dass ein Stück Musik, auch wenn es wie hier mehr als 200 Jahre alt ist, «in der Aufführung so klingen muss, als sei es erst gestern geschrieben worden».

In allen vier Sätzen führt der gleiche Themenkopf erst ins kontrapunktische Chaos, führt ihn polyphon weiter, bisweilen von bizarren Hornrufen «gestört». Das Orchester muss in die entlegensten Kreuz-Tonarten − so kompromisslos war Mozarts Musik nie zuvor und nie wieder. Das ästhetisch Schöne gibt es nicht mehr, es ist leidenschaftlich und temperamentsgeladen. Es klingt wie ein prophetischer Blick in die Zukunft der Musik. «Solange Musik Auftragsgeber hat, muss sie unterhaltsam sein, weil niemand für Trauer zahlt, die vom Leben genugsam geliefert wird» (H. Swarowsky). Auch das zweite Thema bleibt in Moll, an einen Dur-Schluss ist nicht mehr zu denken.

So bleibt auch nach der Pause das Ziel des Pathos bestehen. Peter Iljitsch Tschaikowsky (1840 – 1893) Symphonie Nr. 6 h-Moll op. 74 «Pathétique»;. Sein Leben in St. Petersburg ist auch durch die Literatur bekannt. Klaus Mann hat es sensibel be- und geschrieben. Tschaikowsky wurde finanziell gefördert von Frau von Meck, die beiden sind sich aber nie persönlich begegnet. Als sie ihm mitteilte, finanziell ruiniert zu sein und die Jahresrente von 6.000 Rubeln nicht mehr zahlen konnte, war das auch für den Komponisten ein schwerer Schicksalsschlag. Tschaikowsky komponierte die «Pathétique» 1893, und sie wurde im selben Jahr in St. Petersburg uraufgeführt.

Es war damals kein Erfolg, die Symphonie blieb dem Publikum unverständlich. «Der erste getragene Satz schien das Publikum fast zu langweilen; desgleichen das Allegro con grazia, dessen langsamer Rhythmus enttäuschte. Das gar zu gehetzte wild vorwärts getriebene Tempo des dritten Satzes rief im Saale eine gewisse Beunruhigung hervor: man rückte auf den Stühlen, tauschte verwunderte Blicke. Der letzte Satz, das Adagio lamentoso, übte auf das Auditorium dieselbe befremdliche Wirkung, die es bei der ersten Orchesterprobe auf die Musiker gehabt hatte. Es wehte ein Hauch aus diesem schmerzvollen Finale, der keinen Enthusiasmus aufkommen ließ» (Klaus Mann). Es waren Abschieds- und Klagetöne. Der Komponist selbst schrieb «Ein Programm, das allen ein Rätsel bleiben wird». Tschaikowsky starb nur neun Tage nach der Uraufführung. Schrieb er mit der «Pathétique» sein eigenes Requiem? Das Wie und Warum sind bis heute nicht geklärt.

Das alles, was damals für die Hörer unverständlich war, kam bei diesem Konzert verständlich über die Rampe des Festspielhauses. Die faszinierenden Wechsel von Soli und Tutti, dieser Dialog war genial. Eine Besonderheit des «Leipziger Klangs» konnte sich entfalten: die Streicher orientieren sich in der Lautstärke am tiefsten Instrument, dem Kontrabass. Schaut man in die Partitur, sieht man das so phänomenale Hörerlebnis, das man sonst kaum einordnen kann. Die einzelnen Instrumentengruppen spielen Crescendo − Decrescendo, aber nicht konform, sondern gegenläufig. Das war hohe Kunst von Andris Nelsons und seinem Gewandhausorchester! Das Publikum honorierte etwas unentschlossen das «Neue». Umso freudiger eine Gruppe kleiner Mädchen und Jungen von der Musikschule Oberkirch-Achern, die alle selbst mindestens ein Instrument spielten und das anspruchsvolle Programm wie ein Schwamm aufgenommen hatten. Vielleicht muss es einem um die Zuhörerschaft des Festspielhauses in der Zukunft doch nicht so bang sein!

«Welche Wonne, welche Lust» (W. A. Mozart): ein Orchester und sein Dirigent bringen ein «altes» Programm «neu» zu Gehör, und die Kinder im Parkett haben leuchtende Augen und möchten es den «Großen» einmal nachtun. So ist der Schluss tröstlich und voller Hoffnung, wie ein Ende in C-Dur.


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