St. Petersburger Philharmoniker in Baden-Baden gefeiert

Petersburger Philharmoniker im Festspielhaus Baden-Baden - Publikum erklatschte sich enthusiastisch eine Zugabe - Yefim Bronfman: Musik ist die russische Seele!

Petersburger Philharmoniker im Festspielhaus Baden-Baden - Publikum erklatschte sich enthusiastisch eine Zugabe - Yefim Bronfman: Musik ist die russische Seele!
Die St. Petersburger Philharmoniker. Foto: Michael Gregonowits

Baden-Baden, 22.10.2018, Bericht: Inga Dönges Die St. Petersburger Philharmoniker wurden in den 1880er Jahren von Zar Alexander II. als Hoforchester gegründet. Sie haben eine große Tradition mit herausragenden Dirigenten und Uraufführungen.

Seit 1988 ist Yuri Temirkanov (geb. 1938 in Naltschik) ihr künstlerischer Direktor und Chefdirigent. Er studierte Viola und Dirigieren und absolvierte sein Studium am St. Petersburger Konservatorium. Sein künstlerischer Weg war international mit Auszeichnungen und großen Orchestern geprägt. Sein Dirigat beeindruckte durch sparsame Bewegungen. Kerzengerade stand er auf dem Podest. Die Symbiose zwischen Orchester und Dirigent war hörbar.

Das Programm begann mit Nikolai Rimsky-Korsakov «Die Legende von der unsichtbaren Stadt Kitesch und der Jungfrau Fewronija» − Orchestersuite zusammengestellt von Maximilian Steinberg (1883 - 1946). Rimsky-Korsakov wurde 1844 im Gouvernement Novgorod geboren, erhielt als Kind den damals in aristokratischen Kreisen üblichen Musikunterricht, trat mit 12 Jahren in das Petersburger Seekadetten-Korps ein. In dieser Zeit entdeckte er seine Liebe zur Musik, nahm Cello- und Klavier-Unterricht, um dann ein Musikstudium zu absolvieren.

Er wirkte in St Petersburg und Moskau als Dirigent und errang auch im Ausland bedeutende Erfolge. Er verstarb 1908 auf seinem Landgut und hinterließ als Komponist ein umfangreiches Oeuvre: 15 Opern, 3 Symphonien, Kammermusik und vieles mehr - so auch Suiten zu seinen Opern. Der Titel ist «Legende» und nicht Oper. Der Grundgedanke der Musiksprache ist einzigartig − Gott ist überall, in der Natur, in jedem Baum, in jeder Blume. In seinen Skizzen zur Ästhetik (1892/93) fordert er die Laut-Nachahmung im genauen Sinn. Aus der Natur: Vögel, Wind, Blätter, Rauschen, Donner und anderes mehr. Sie zeigen die pantheistischen Neigungen des Komponisten. Aus dem Leben: Glocken, Kriegsposaunen, Schreie und Rufe, Geraschel und Gemurmel.

In dieser «Oper» zerstören die Tataren im 13. Jahrhundert die Stadt Kitesch − sie stehen stellvertretend für alle Zerstörer von Kultur, Religiosität und Humanität. Das Gute erringt, auch wenn es untergeht, einen moralischen Sieg, der es stärker macht als Gewalt und Inhumanität. Die Suite enthält − in dieser Folge gespielt − 2. Hochzeitszug, Überfall der Tartaren; 3. Schlacht am Kerschenez; 1. Vorspiel, Lob der Einsamkeit.

Rimsky-Korsakov hat sich bis zu seinem Tode mit dem Phänomen des Klanges theoretisch beschäftigt, wie es aus den nachgelassenen Schriften hervorgeht. Einerseits stammen seine Überlegungen aus der Romantik und behalten andererseits doch ihre Stellung bis in den Expressionismus. Er hatte auch bestimmte Farbvorstellungen die Tonarten betreffend: z. b. «D» − gelb, golden, sonnig − Tonalität des Tageslichts; «Es» − grau-blau, dunkel-trübe − Tonalität der Festungen und Städte.

Das alles und noch mehr brachten die Petersburger zu Gehör. Irgendwie verstand man die Aussage: Es gibt auch negative Kräfte, aber die Kraft des Guten bleibt bestehen. Es waren neun Kontrabässe, zwei Harfen, so viele Streicher, wobei das virtuose Geigensolo des Konzertmeisters hervorstach. Die Blech- und die Holzbläser, wobei Trompete und Oboe die Palme gebührt. Alle haben als Tuttisten gespielt, aber sie waren eigentlich alle Solisten und verstanden ihren Dirigenten. Selbst wenn man diese selten aufgeführte «Oper» nicht kannte, empfand man eine Ahnung, was und wie vom Orchester und seinem Dirigenten über die «Legende» berichtet wurde. Als kleines Aperçu: die mindestens 100 Musiker spielten ein Pianissimo, das traumhaft war.

Dann kam der Flügel zu seinem Recht. Sergei Prokofiev, Klavierkonzert Nr. 2 g-Moll op. 16, und der Pianist Yefim Bronfman betrat die Bühne, bescheiden durch die Mitte des Orchesters. Er wurde 1958 in Taschkent (Usbekistan) geboren, ist mittlerweile US-amerikanischer und israelischer Staatsbürger. Sein Vater war Konzertmeister im Opernorchester und seine Mutter Pianistin. Er wurde zum Pianisten ausgebildet, schon im Freundeskreis der Eltern von Emil Gilels und David Oistrach. Dann mit 12 Jahren das Debüt mit dem 1. Klavierkonzert von Sergei Rachmaninow. Er emigrierte mit seinen Eltern nach Israel im Alter von 14 Jahren. In den USA studierte er bei Rudolf Serkin und Leon Fleischer und gab 1975 sein internationales Debüt mit Zubin Mehta.

Das Klavierkonzert von Sergej Prokofjew (1891 – 1953) hat vier Sätze. Es entstand 1913 und lässt dem Klavier und dem Pianisten große Freiräume. Es gehört technisch zu den schwierigsten des 20 Jahrhunderts. Jefim Bronfman und die Tastatur des Klaviers sind eine Einheit. Der linke Fuß schlägt den Takt, der rechte setzt das Pedal immer nur kurz ein. Seine Handhaltung mit einem geraden Handrücken und Fingern wie eine Spinne leisten für unmöglich Gehaltenes. Die Hände wechseln von links nach rechts und umgekehrt und immer wieder über Kreuz. Man darf sagen: Es war artistisch!

Im 1. Satz trägt das Klavier ein Hauptthema vor, es folgt ein virtuoses zweites Thema, dann eine gewaltige Kadenz und als Schluss eine kurze Reprise. Der 2. Satz ist mit immer neuen Ideen ein Perpetuum Mobile - Scherzo vivace. Der 3. Satz, das Intermezzo, klingt sehr russisch in seinen Stimmfarben. Der 4. Satz führt zu einem Ringschluss und das Finale lehnt sich thematisch an den 1. Satz an.

Das Publikum erklatschte sich enthusiastisch eine Zugabe: Claude Debussy, «Clair de lune», Suite Bergamasque. Es war sanft, lieblich, melodiös: ein Kontrast zum Vorherigen. Beschwingt ging man in die Pause, um danach ein großes Geschenk zu bekommen. Peter Iljitsch Tschaikowsky (1840 – 1893), Schwanensee-Suite, aus der Ballettmusik zusammengestellt von Yuri Temirkanov.

Wenn man Tschaikowskys an Nihilismus grenzende Lebensanschauung betrachtet: «Die Vergangenheit bedauern, auf die Zukunft hoffen, nie mit der Gegenwart zufrieden sein.» lag der Selbstmord andauernd im Bereich seines Denkens als befreiende Tat. Im Oktober 1893 erlag er in St. Petersburg einer Cholerainfektion. Und dann dieser Zauber von «Schwanensee» (1875) − man hörte die Musik mit den Ohren und sah dazu im Inneren den Tanz. Das weiße Ballett − wie positiv für die Seele. Der Dirigent hatte neun Szenen zusammengestellt, die dem Zuhörer das Ganze vermittelten.

Tschaikowsky hatte einen genialen Sinn für musikalische Gestaltung, die der Welt der Symphonie entstammte und die auf das Ballett angewendet werden konnte. Teils war dies eine Sache der Kunstfertigkeit des Komponisten, seine Partitur über einem fest gegründeten Tonarten System zu errichten. Man muss nicht wissen wie, sondern den großen Effekt hören. Die Mächte des Guten bedienen sich der Tonarten, die eng mit der Originaltonart «B» verwandt sind. So wechselt die Partitur ständig zwischen Kontrasten. In dieser Welt war er in seinem Element, selbst wenn dies unbestreitbar eine Flucht aus der quälenden Realität seines Lebens darstellte.

Für den Zuhörer im Saal ergab sich ein neuer Aspekt. Bei einer Ballettaufführung sitzt das Orchester unsichtbar im Graben, und das Auge ist bei den Tänzern. Aber so, wenn das Orchester auf der Bühne sitzt, verschärft sich der Eindruck beim Hören. So viele musikalische Finessen fielen sonst nicht auf, die prachtvollen instrumentalen Soli nahm man einfach so hin und mit. Ein großer Verdienst, dass die Petersburger Philharmoniker und ihr Chefdirigent das weitergegeben haben, was früher «in der Versenkung des Grabens» blieb.

Belohnt wurde das begeistert applaudierende Publikum mit einer Zugabe: Edgar Elgar, «Salut d'amour» op. 12. Der Dank und das Glück der Zuhörer waren zu spüren, aber: als Sprachen im Foyer hörte man mehr Französisch und Russisch. Wo waren die Baden-Badener? Ein kleines Häuflein war beisammen und hochgestimmt. Weiß diese Stadt einfach nicht, dass sie das Festspielhaus als «Leuchtturm» hat? Sie bewirbt sich zwar um das Weltkulturerbe, weiß aber wohl herzlich wenig über Hoch-Kultur. Das Publikum der Vorstellung hat es gewusst und wird sicher wiederkommen. Sollte sich die «Kulturdezernentin» der Stadt nicht auch mehr für die Musik im Festspielhaus interessieren?


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