Gastkommentar

Die goldene Generation – Und: Baden-Baden beginnt halt erst richtig ab dem Verfassungsplatz, davor ist nicht so wichtig – Gastkommentar von Helmut Höfele

Die goldene Generation – Und: Baden-Baden beginnt halt erst richtig ab dem Verfassungsplatz, davor ist nicht so wichtig – Gastkommentar von Helmut Höfele
goodnews4-Gastkommentator Helmut Höfele ist im idyllischen Ooswinkel aufgewachsen. Foto: Archiv

Bild Helmut Höfele Gastkommentar von Helmut Höfele
19.08.2021, 00:00 Uhr



Baden-Baden In unregelmäßigen Abständen veröffentlicht goodnews4.de Beiträge von Gastkommentatoren. Zum engeren Kreis gehören der Baden-Badener Bestsellerautor Franz Alt und Thomas Bippes, der sich insbesondere den Themen der Digitalisierung, IT und Künstlichen Intelligenz zuwendet.

Helmut Höfele ist im Ooswinkel in Baden-Baden geboren und aufgewachsen. Zuletzt war unser Gastkommentator Erster Polizeihauptkommissar und Revierführer in Titisee-Neustadt.

Kommentar: Helmut Höfele Endlich mal wieder Sonne. Ich sitze mit meinen alten Freunden Arey und Reinhard im Ooswinkel in Reinhards Gartenlaube, Lounge-Garnitur, badische Fahne, KSC und Devotionalien, der Geißbockelf, ein von mir eingeschmuggelter Bayernschal, jeder ein kühles Pilsgetränk, mit dem der Absteiger aus dem Ruhrpott Werbung macht, vor sich. Damit kein falscher Eindruck entsteht: hier wohnt ein Fußballinteressierter, Fans sind wir alle nicht mehr. Es braucht keine langen Sätze und große Worte. Wir kennen uns über 60 Jahre. Waldschule, mit Kastanien zusammen und gegeneinander in der Pause gekickt. So fing es an. Alle drei Ooswinkler, einer hält noch die Stellung.

− Bundesliga hat wieder begonnen, und?

− Ich brauche bis zur Rückrunde bis ich wieder alle Spieler und Trainer der richtigen Mannschaft zuordnen kann.

− Zu viele Söldner, es geht nur noch ums Geld. So steigt man ab wie Schalke 04.

− Und wenn`s um Fußball geht, fliegen sie gegen England raus. In einem Gurkenkick.

− Aber schöne Kapitänsbinde hat er gehabt, der Manuel.

− Hör mir auf. Mit LGBTIQ+ bist du medial immer ganz weit vorne.

− Häh?

− Sexuelle Orientierungen, Identitätsformen.

− Und das Plus?

− Steht für Orientierungen, die man jetzt noch nicht kennt.

Schweigen. Großer Schluck Bier. Alte weiße Männer, allesamt in Not.

− Wir könnten doch bei Fridays for Future… (schmunzelnder Einwurf)

− So wie die Omas und Opas, die immer am Ende mitlatschen? Da denke ich immer, die haben doch 70 Jahre Zeit gehabt was zu ändern. Letzte Demo vor der letzten Ölung?

− Stimmt. Das hatten wir mal. Tolle Zeit. Jeder konnte sagen was ihm einfiel. Vieles war auch damals dummes Geschwurbel und vieles daneben. Das hat man dann demjenigen gesagt, wenn es einem nicht gefiel. Aber zugegeben: alles ohne Facebook, Twitter und WhatsApp, etc.. Face to Face. Nix anonym und hintenrum. Shitstorm hatte man höchstens am nächsten Tag nach zu viel Bier und Currywurst.

− In Wisconsin haben sie vor ein paar Tagen auf einem Universitätsgelände einen rassistischen Stein versetzt.

− Einen was?

− Der ist 2 Milliarden Jahre alt, steht seit 1925 auf dem Gelände. Hat zu der Zeit vom Ku-Klux-Klan möglicherweise einen rassistischen Ausdruck verliehen bekommen und musste jetzt von seinem erhabenen Standort weg. 43.000 Dollar Kosten.

Kopfschütteln in der Runde.

 

− Bin mal gespannt, wann die Amerikaner ihre Hauptstadt umbenennen. Washington hatte früher mal Sklaven und nicht wenige.

− Noch ein Bier?

− Me, too.

− Mit oder ohne #?

− Bob Dylan wurde jetzt verklagt. Ein angeblicher Missbrauch vor 56 Jahren.

− The times they are changing!

− Hör auf, das kannst du nicht mehr bringen. Witze gehen gar nicht mehr.

− Und im September, wen wählt ihr denn so?

− Ich würde Willie wählen.

− Gute Idee, du hast sicher noch einen guten Williams in Reserve. Hol mal Gläser.

− Hat schon mal jemand festgestellt, dass die Anfangsbuchstaben von Annalena Charlotte Alma Baerbock ACAB ergeben, also all cops are bastards?

− Komm hör auf. Und alle Vegetarier wählen rechts, oder wie?

− Warum denn das jetzt?

− Mach mal einen Bindestrich nach dem t.

− Apropos rechts. Kommt jetzt eine Busspur auf dem Zubringer?

− Ich glaube nicht. Wer will denn in dem Bus fahren. Geschäftsleute, die gerade mit dem Zug in Oos angekommen sind? Die nehmen ein Taxi.

− War mal eine schöne Allee, die Fürstenberger Allee. Mit Bäumen links und rechts. Wie es sich für eine richtige Allee gehört.

− Ich erinnere mich irgendwie an Kopfsteinpflaster, so ganz großes.

− Eine Bahnschranke zwischen Ooswinkel und Bahnstraße. Auf einer Seite stand der Bahnwärter unter einem Holzverschlag und kurbelte wie wild die Schranke hoch und runter. Dann kamen Bagger und Lastkraftwagen, Bäume wurden gefällt und fertig war der Autobahnzubringer, Bauzeit fast 5 Jahre, 7 Kilometer lang, Einweihung im März 1960 durch OB Ernst Schlapper.

− Aber wie hätte man denn sonst den Verkehr nach Baden-Baden reingebracht.

− Da geht es doch schon los. Baden-Baden beginnt halt erst richtig ab dem Verfassungsplatz, davor ist nicht so wichtig. Es gab mal wohl den Plan eine Straße von der Autobahn über das Jagdschloss und Mülldeponie bis Lichtental zu führen, aber die wäre mitten durch den Wald gegangen. Auch wenig schön.

− Dafür bekamen wir die «Schneggebrück». Damals architektonisch ganz weit vorne und schon barrierefrei.

− Und wie. Es gibt da die Legende, dass mal ein Auto drüberfuhr.

− Ich weiß nichts. (schmunzeln)

− Ich kann mich auch an nichts erinnern (noch mehr schmunzeln). Echt keine Ahnung. Was sollte denn das für ein Auto gewesen sein?

− Hattest du nicht mal einen NSU Prinz? (Gelächter)

− Und vorne am Eck der Club 68 von Tony Marshall.

− Zuerst gab es dort den Fürstenberger Hof, dann das West End Grill, dann Tony. Das Eckhaus wurde 1896 erbaut.

3-4 Treppen hoch, eintauchen in die Große Welt des Showbizz.

Nä, ganz so war das nicht, aber für drei junge Ooswinkler schon ganz schön aufregend und alles so nahe.

Rechts im Eck neben dem Eingang eine Sitzecke, dann die Musikbox, davor eine kleine Tanzfläche.

Danach auf der rechten Seite die Bar, sechs Plätze, ein Platz um das Eck, da saß ab und zu Gaby, Tony Marshalls Frau, manches Mal arbeitete sie auch hinter der Theke.

Auf der linken Seite Vierersitze mit niederen Tischen und die Bänke mit rotem Stoffbezug. An den Wänden psychedelische Kreise in lila und rot. In dem Spielfilm «Heute hau’n wir auf die Pauke» ist davon etwas zu sehen. Zur Toilette musste man durch eine Tür ins Treppenhaus vom Haus nebenan. Undenkbar heute. Mit insgesamt ca. 30 Personen war der Club schon richtig voll. Hinter der Theke am Zapfhahn meist Otto R., Geschäftsführer, Zapfer und ein Unikum mit Schnäuzer und Mähne. Und Schwiegervater von Tony Marshall.

− Wusstet ihr, dass der Otto früher bei den Nazis als Ordonanz in einem Offizierskasino war? Als Jude und keiner hat es zunächst bemerkt? Und als man ihm doch auf die Schliche kam, wurde er nicht in die Gastkammern geschickt, weil er sogar bei den Nazis beliebt war. Ich glaube seine Strafe war die Kastration.

− Krass

− In der Musikbox. Was lief denn so? Jeder ein Titel.

− Ich drückte immer «Mein Elternhaus» von Tony Marshall. (tiefes Durchatmen bei den anderen zwei)

− Aber da war doch «Aline» besser.

− Ich erinnere mich noch an Nino Ferrer «Le Telefon».

− «Fire» von Arthur Brown, «Young girl» Gary Puckett, «Lady Madonna» Beatles.

− Vergiss nicht «Monja» von Roland W., der größte Schmalz von allen.

− War das die im nassen Sand und er hielt noch ihre Hand?

− Yep.

− Wenn du bei dem Titel noch auf der Tanzfläche warst, war der Abend gerettet.

− Das waren jetzt aber mehr wie nur 1 Titel.

− Aber 1968 war halt ein geniales Musikjahr.

− Später fand ich den Auftritt von Tony Marshall bei Disco 1976 «Vom Hofbräuhaus zur Reeperbahn» mit den ABBA’s in der Polonäse legendär. Und die hatten richtig Spaß.

− Und Gust, der Bruder von Tony hatte mal ein Techtelmechtel mit meiner Schwester Traudel.

− Ach komm, hör doch auf, wer‘s glaubt.

− Später traf ich Tony Marshall oft beim «Hoge» im Schützenhaus am Steinbruch in Lichtental. Ich habe dort Getränke ausgegeben. Dort spielte er ab und zu bei besonderen Anlässen Gitarre und sang. Aber alles privat, so Anfang der 2000er. Er hatte dort seine Tony Marshall Ecke. Der Mann war komplett geerdet, ich hatte nie den Eindruck von Starallüren. Kickte ja auch früher beim SC Baden-Baden.

− Stimmt eigentlich die Legende von Jack White, der im weißen Pelzmantel im Club 68 auftauchte und Tony Marshall zu «Schöne Maid» überredete.

− Ich war nicht dabei. Aber theoretisch könnte es schon sein, der war ja oft beim Südwestfunk und hat dann vielleicht auch einen Abstecher in den Club 68 gemacht. Aber es gibt da noch die Legende vom Erdbeerfest in Staufenberg, wo Jack White das polynesische Volkslied angedient haben soll. Tony war entsetzt.

− Wie lange gab es denn den Club in der Bahnstrasse?

− Ich glaube so 10 Jahre, dann zog er in die Innenstadt.

− Übrigens, wer mehr wissen will. Ich habe da erst kürzlich eine schöne Zusammenstellung seines Lebenslaufs gefunden: smago.de

− Und neben dem Club war ein Friseurgeschäft und die Metzgerei Brill, weiter oben der Bäcker-Lerch, 1 Kilo Brot eine Mark und schräg gegenüber der Kiosk von Schwab‘s. Der Mann eher von der brummeligen Sorte, die Frau immer freundlich. Da haben ganze Generationen ihr Micky-Maus, Bravo, Lassie, Fix und Foxi und sämtliche Süßigkeiten gekauft.

− Vergiss nicht Eis und Schulhefte.

− Ums Eck vom Bäcker-Lerch war ein Alteisensammler, oder?

− Klar, da haben wir als Kinder immer Papier und Alteisen hingebracht und uns manches Zehnpfennigstück verdient. Da musste man so eine Rampe hoch und da stand eine große Waage. Der lief auch mit seinem Karren durch den Ooswinkel und rief lautstark: «Lumpen, Alteisen, Papier.»

− Das war noch modernes Recycling. Heute musst du mit dem Auto dein Zeug wegfahren.

Und dann kam er endlich. Der Satz, der schon lange in der Luft lag. Nach einem weiteren Schluck:

FRÜHER WAR ALLES IRGENDWIE BESSER.

− Du hörst dich schon wie deine Eltern an

− Egal, aber hört mal: kein Gedöns in der Schule wegen Markenklamotten, in der Hitparade wurde Roy Black nach den Rolling Stones und Rex Gildo vor den Hollies gespielt. Ich habe auch nie erlebt, dass es Probleme zwischen Stones- und Beatles-Fans gab. Das ist doch ein Mythos. Ganz weit vorne war man, wenn es gelang Dave Dee, Dozy, Beaky, Mick and Tich fehlerlos aufzusagen. Als die Beatles-Stiefel in Mode kamen, habe ich die 2 Nummern kleinere Stiefeletten meiner Mutter angezogen. Das soll heute mal jemand wagen. Keine 70 Programme, Netflix und Amazon. Kein Internet, kein Handy, keine Spielekonsolen. Kickten irgendwo ein paar, bolzte man mit. Kleines Kofferradio mit 12 Transistoren, das Bakelit stank ungesund wie sonstwas nach Chemie und durchgebranntem Kunststoff, war aber unerlässlich zum Radiohören zur Nachtzeit. Später der Telefunken, Bajazzo TS, auch zum Einbau für das Auto unter dem Handschuhfach. Na gut. Es war nicht alles besser, aber einfacher. Ruhiger, weniger hektisch, wir hatten mehr Zeit und ich glaube auch, die Anforderungen waren noch nicht so hoch wie heute.

− Stimmt. Jeder konnte so ziemlich sagen was er wollte. Vieles war auch damals dummes Geschwätz und vieles daneben. Das hat man dann demjenigen gesagt, wenn es einem nicht gefiel. Alles ohne Facebook, Twitter und What‘s app, etc.. Face to Face. Nix anonym und hintenrum. Shitstorm hatte man höchstens am nächsten Tag nach zu viel Bier und Currywurst. Das Internet kann super sein, zur Kommunikation taugt es nichts.

Nach einer weiteren einstündigen Diskussion und dem Austausch von Erinnerungen aus einer Zeit ohne Krieg im eigenen Land und mit immer mehr eigenem wirtschaftlichen Aufschwung sagte einer:

− Wisst ihr was? Egal ob es früher oder heute besser war oder ist oder was noch kommt, eines ist klar:

Wir sind die goldene Generation. (alle nicken und nehmen noch einen zufriedenen Schluck)


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