Leserbrief

Leserbrief „Meine Meinung“ zu „2.100 Baden-Badener sind 85 Jahre alt oder älter" - Hochbetagt, aber kein bisschen weise?!

Leserbrief „Meine Meinung“ zu „2.100 Baden-Badener sind 85 Jahre alt oder älter" - Hochbetagt, aber kein bisschen weise?!
Prinz-Weimar-Straße 12. Foto: Gertrud Mayer

Baden-Baden, 01.10.2018, Leserbrief In einem Leserbrief an die Redaktion nimmt goodnews4-Leserin Gertrud Mayer Stellung zu dem goodnews4-Bericht 2.100 Baden-Badener sind 85 Jahre alt oder älter − Anteil von «Hochbetagten» 50 Prozent über Landesdurchschnitt − Seit 1970 versechsfacht.

Ein altes sizilianisches Sprichwort ist: «Wer nichts sieht, nichts hört, nichts sagt, der wird in Ruhe hundert Jahre alt.» So auch in Baden-Baden. Obiges Bild der Villa in der Prinz-Weimar-Str. 12 zeigt die Behausung von Herrn Medizinalrat Dr.med. Otto Heinz Ertl, praktischer Arzt, und, nach 1950, wohl auch gemeinsam mit seiner jungen Ehefrau Eva, geb. Hambruch. Entworfen und erbaut wurde es vor 1930 von den Architekten Oskar Rottermehl und Leo Oser, die dort 1930 ihr Büro hatten.

Das Nachbarhaus, Prinz-Weimar Str. 10 gehörte 1930 Robert Lipsky, dem Inhaber des Kaufhaus Lipsky in der Lange Straße (später zur Horten KG gehörend und noch später als City-Wagener bekannt). Die Witwe von Robert Lipsky verblieb im Wohnhaus, während Ludwig Lipsky das Geschäft bis 1938 weiter betrieb. Er verkaufte das seinerzeit größte Einzelhandelsgeschäft dann im Zuge der «Arisierung» und emigrierte mit seiner Familie nach England.

Prinz-Weimar-Str. 12 muss dann in den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts wohl in den Besitz der Evangelischen Stadtmission gekommen sein. Es liegt idyllisch oberhalb der Kurfürstenstr. 2, in dem Werner Hambruch, Verleger und Geschäftsführer des Badischen Tagblatts lebte. Kann es sein, dass das Haus irgendwann in den Besitz in der Familie Hambruch gekommen ist, sozusagen als Hochzeitsgeschenk für den angehenden Schwiegersohn Dr. Otto Heinz Ertl und seine Braut Eva Hambruch? Warum auch nicht! Immerhin war die Nachbarschaft judenfrei.

Dr. Ertl war mittlerweile bis 1950 zum Medizinalrat reüssiert. Wem er diese Blitzkarriere wohl zu verdanken hatte? Auskunft darüber gibt wieder einmal sein direktes Umfeld. Der Schulfreund aus gemeinsamer Mannheimer Zeit war Dr. Hans Karl Filbinger, geboren am 15.9.1913 in Mannheim, gestorben am 10.04.2007 in Freiburg. Beide haben nach dem Abitur studiert, der eine Medizin, der andere Jura.

Filbinger war seit 1933 Mitglied des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes, seit 1934 Mitglied der SA und trat 1937 in die NSDAP ein. 1940 meldete sich Filbinger freiwillig zum Dienst in der Kriegsmarine, zum 30. August 1940 erfolgte seine Einberufung. Sein Schulfreund Otto Heinz Ertl war Stabsarzt in Lübeck − und sonst nichts?

Im März 1943 wurde Filbinger nach Abschluss eines Offizierslehrgangs und der Beförderung zum Oberfähnrich aus der Wehrmacht entlassen und zum Marinerichter im Dienstbereich des Marineoberkriegsrats für den Nordsee-Bereich ernannt. 1945 geriet er in Oslo in britische Kriegsgefangenschaft und übte das Amt des Marinerichters bis Februar 1946 weiter aus. Der militärische Werdegang in diesen Kriegszeiten war normal und entsprach den Bestimmungen der Wehrmacht. Aber was war mit Otto Heinz Ertl? 1940 als Stabsarzt (das entspricht dem Rang eines Hauptmanns) in Lübeck gemeldet, und dann eine gähnende Lücke bis 1950? Da war er plötzlich umstandslos Beamter und Medizinalrat, später sogar Oberregierungs-Medizinalrat und Amtsarzt. Welch schnelle Karriere − etwa um seiner Ehefrau Eva, geb. Hambruch standesgemäß zu sein?

Sollte sein Schulfreund Filbinger da eventuell nachgeholfen haben? Filbinger wurde 1960 in den Landtag gewählt, dann Innenminister und rückte so in die erste Reihe der CDU-Politiker Baden-Württembergs auf. Der Schriftsteller Rolf Hochhuth nannte 1978 den Marinerichter Filbinger einen «furchtbaren» Juristen, der bewiesenermaßen an vier Todesurteilen noch im Januar 1945 beteiligt war. Da kommt einem doch die Idee von «Brüdern im Geiste». Der Mediziner arbeitete in der Universität Heidelberg unter Professor Runge mit am Euthanasieprogramm, während der Jurist Todesurteile wegen Fahnenflucht fällte − wagt man das überhaupt zu glauben? Es ist bewiesen, und macht kreuzelend.

Die «Lady Macbeth» von Baden-Baden bezieht sicherlich eine Witwenpension, die ihr seit dem Tode des Ehemannes Otto Heinz Ertl im Jahre 1970 zusteht. Bei Shakespeare zerfällt die innere Sicherheit dieser Frau: schlafwandelnd versucht sie, unsichtbares Blut von ihren Händen zu waschen. Aber sie wohnt immer noch in der Stephanienstraße 2, dem ehemaligen Hotel Central, dessen Inhaber 1938 Philipp Lieblich war und 1940 nach Gurs deportiert wurde. Nach dem Brand der Synagoge am 10. November 1938 wurden die Juden vor ihrem Transport nach Dachau − der durch die Fürstenbergallee führte − im Hotel Central noch zum letzten Mal aus der koscheren Küche verköstigt. Wie hartgesotten und mitleidlos muss eine Frau sein, in diesem «arisierten» Haus zu leben?

Und jeden Morgen schaut diese «Lady Macbeth» auf ihr eigenes Schandmal: die profane Nutzung des Synagogengrundstücks durch den Parkplatz für die Mitarbeiter des Badischen Tagblatts. Sie schaut dorthin, wo die zerstörte Synagoge nach moralischem Recht wiedererstehen müsste. Aber ihre Gier nach diesem Besitz lässt das nicht zu, oder wie soll man das Verhalten sonst deuten? Frank Wedekind sagt es in einfachen Worten: «Das hat zu ihrem Sündensold, der liebe Gott gewollt!» − oder darf man diese Frage in Baden-Baden nicht stellen?

Gertrud Mayer
Baden-Baden


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