Leserbrief

Leserbrief „Meine Meinung“ – Zum Leserbrief von Yvonne Hannewald – „Putin ist quasi Mitarbeiter des Monats bei der NATO“

Baden-Baden, 09.06.2022, Leserbrief In einem Leserbrief an die Redaktion nimmt goodnews4-Leser Jan Siegl Stellung zu Leserbriefen der goodnews4-Leserin Yvonne Hannewald Leserbrief «Meine Meinung» − Antwort auf Frau Gribkowa − «Die Ukraine ist genauso weit weg von einer Demokratie, wie Russland auch».

Lange beobachte ich hier auf der goodnews4-Seite die Meinungs- und Briefwechsel zum Thema Ukraine. Ich bin mit einer Ukrainerin verheiratet. Wir haben meine geflüchtete Schwiegermutter seit mehreren Monaten bei uns untergebracht. Wir haben ukrainische Freunde in der Region und auch in Baden-Baden. Wir bekommen diesen Krieg also direkt zu spüren mit all seinen Facetten, Freude und Trauer. Auch in unserem Freundes- und Bekanntenkreis gibt es Tode zu betrauen sowie Traumatisierte.

Seit nun über 100 Tagen haben wir hier eine Achterbahn der Gefühle, die fast stündlich wechselt. Ebenfalls sind wir beide berufstätig, ich sogar in der IT-Branche mit beratender Tätigkeit. Daher wundere ich mich über die Freizeit, die man als Unternehmensberaterin hier in das Schreiben antiamerikanischer & antieuropäischer Leserbriefe stecken kann. Da muss ich wohl etwas falsch machen... dies ist jedoch ein anderes Thema.

Was mich abseits des stumpfen Antiamerikanischen & Antieuropäischen des Leserbriefs von Fr. Dr. Hannewald sehr stört, ist dasselbe, was mich bei dem Brief der sogenannten «Intellektuellen» an Kanzler Scholz gestört hat. Hier wird ein Land, in dem die Mehrzahl der Personen noch nie war, aus dem bequemen Schreibtischstuhl heraus quasi für einen Krieg schuldig gesprochen.

Nun möchte ich auf ein paar Behauptungen eingehen, welche Frau Dr. Hannewald in ihrem aktuellen Brief aufstellt.

 

Aus dem Leserbrief: Leserbrief «Meine Meinung» − Antwort auf Frau Gribkowa − «Die Ukraine ist genauso weit weg von einer Demokratie, wie Russland auch»

− «Die Angaben von Ihnen bezüglich der 15.000 Toten, durch ukrainische Soldaten und Söldnertruppen ermordet im Donbass und Luhansk, wurden von unabhängigen OSZE und UNO Vertretern bestätigt, die keine Putin Versteher sind.»

= «Total conflict-related casualties in Ukraine in 2014-2021 OHCHR estimates the total number of conflict-related casualties in Ukraine from 14 April 2014 to 31 December 2021 to be 51,000–54,000 : 14,200-14,400 killed (at least 3,404 civilians, estimated 4,400 Ukrainian forces , and estimated 6,500 members of armed groups), and 37-39,000 injured (7,000–9,000 civilians, 13,800–14,200 Ukrainian forces and 15,800-16,200 members of armed groups).»

Es ist nirgends nachzulesen, wer für welche Toten verantwortlich ist. Ebenso ist die Zahl der 15.000 Toten nicht aufzufinden, sondern nur sehr traurige 14.200 bis 14.400. Darunter 3.404 Zivilisten, 4.400 ukrainische Einheiten und 6.500 Einheiten von Mitgliedern bewaffneter Gruppen (Ergänzung – hiermit sind laut UN Bericht die sogenannten «Separatisten» (sprich russische Einheiten)) gemeint. Leider verliert Frau Dr. Hannewald kein Wort über die Folterungen, Verschleppungen und Exekution von Ukrainer*innen im Donbass. Genauso wenig wie Sie etwas über die ERNEUTE Deportation der Krimtataren, also die nativen Bewohner der Krim, sagt. Ich bin jedoch offen für Gegen-Quellen solange diese nicht RT Deutsch oder Sputnik heißen, bezweifle jedoch, dass diese die Glaubwürdigkeit des offiziellen UN Berichtes übertreffen, diesen finden Sie unter: ukraine.un.org

= = =

− «Es ist ein Skandal ersten Ranges, dass der ukrainische Botschafter Melnyk noch immer in diesem Land sein darf. Merkel hätte diesen Herrn schon lange, wie damals Grenell, des Landes verwiesen. Sein Auftreten entspricht 1 zu 1 dem von Grenell. Er tut genau das, was die Amerikaner von ihm haben wollen. Melnyk ist des Landes zu verweisen und zwar sofort.»

Sehr Interessantes Diplomatieverständnis und auch eine falsche Darstellung, warum Grenell als Botschafter zurücktrat. Nochmal: Grenell trat selber zurück und wurde nicht, wie von Ihnen behauptet, von Frau Merkel des Landes verwiesen. Grenell hat sich, im Gegensatz zu Herrn Melnyk, dessen Land sich übrigens in einem illegalen, nicht verschuldeten Krieg befindet, öffentlich dazu geäußert, sich aktiv in die Kräfteverteilung Europas einzumischen. Man muss den Stil von Herrn Melnyk nicht gut finden, jedoch ist Herr Melnyk, noch sehr weit von der «post-faktischen» Einflussnahme eines Joseph Grenells entfernt.

= = =

Anschließend folgt das typisch Anti-Amerika und Anti-Nato-Gerede welches sich mit dieser Grafik relativ leicht widerlegen lässt: katapult-magazin.de

⇒ Da Finnland und Schweden zwar Beitrittsgesuche erwirkt haben, jedoch noch nicht Mitglieder sind, ist diese Karte sogar noch aktuell. Dazu möchte ich ergänzen, dass jedes Land der Welt in seiner Wahl des Bündnisses frei ist. Nicht die NATO «greift sich Länder», sondern Länder fragen die Mitgliedschaft an und müssen diverse Aufnahmekriterien erfüllen. Dass übrigens Schweden und Finnland nach über 100 Jahre ihre Neutralität zu Gunsten der NATO aufgeben, um gegen ihren aggressiven Nachbarn gesichert zu sein, ist nicht ein Verdienst der NATO, sondern alleine Russlands, da Sicherheit vor Russlands Angriffen der Hauptgrund für die NATO-Beitritte der letzten Jahre war. Putin ist quasi Mitarbeiter des Monats bei der NATO.

Gerade Finnland hat, wie das Baltikum und Polen, sehr häufig unter sowjetischen Angriffen und der folgenden Besatzung zu leiden gehabt. Stichwort Katlyn, Stichwort Winter und Fortsetzungskrieg (Aus Eindrücken des Winterkrieges sind übrigens die Mumins (diese Nilpferd Ähnlichen Trollwesen) entstanden, sie sollten finnisch-schwedischen Kindern helfen, das erlebte Kriegstrauma zu verarbeiten und ein wenig den Krieg zu vergessen).

= = =

− «Ich fordere, dass jede NATO Übung durch das deutsche Parlament genehmigt werden muss, damit wir, die Bevölkerung endlich mal mehr Transparenz bekommen, was die Bundeswehr wo treibt.»

⇒ Sie meinen die Bundeswehr, die gerade mit 100 Mrd. extra ausgestattet werden musste, um überhaupt kampffähige Einheiten zusammenzubekommen, sowie Munition und moderne abhörsichere Funkgeräte? Die Bundeswehr, mit der zurzeit niemand trainieren möchte, weil die Technik zu alt ist? Was soll diese Entscheidungsfindung bringen? Die Bundeswehr ist und bleibt eine Parlamentsarmee, sprich, der Deutsche Bundestag muss bei jedem Einsatz zustimmen und verlängern. Hierzu wird auch in den gängigen Medien sowie über den Livestream des Bundestags die Möglichkeit gegeben, sich eine Meinung zu bilden.

= = =

− «Wer ist die Ukraine? Ein Land, das seit 30 Jahren Pleite ist, welches mehr als für 250 Milliarden Euro Gas nicht bezahlt hat, welches von Faschisten und Diktatoren geführt wurde, welches sich von den Russen finanziell unterhalten ließ, dann von den USA und nun von USA und Europa. Selensky hat das Land in genau der gleichen Oppression geführt, wie Putin sein Land. Die Ukraine ist genauso weit weg von einer Demokratie, wie Russland auch. Und dieses Land soll in die EU? Auf keinen Fall. Auch hier wird es Zeit, dass die Bevölkerung der EU gefragt wird und nicht von Amerika diktiert wird, wer in die EU aufgenommen wird. Und für so ein Land lassen wir unser Land vor die Hunde gehen? Das können nur intellektuell sehr unterbelichtet Leute fordern.»

⇒ Allein die Frage, wer ist die Ukraine, zeigt, dass hier, das russische koloniale Denken übernommen wurde. Übrigens empfehle ich hier jedem einen Besuch in Meschyhirja – die ehemalige Residenz Janukowitsch, um zu sehen, warum die Ukraine so lange mit Korruption Probleme hatte bzw. heute noch darunter leidet. Auch wenn es erheblich besser geworden ist.
Spoiler: Von Moskau eingesetzte Minister, die ihr Geld für goldene Toiletten und vergoldete Baguettes ausgeben, um die Ukraine in einer wirtschaftlichen Abhängigkeit von Russland zu halten.

Selenskji wurde in einer freien, fairen und übrigens durch die oben genannte OSCE beobachtete Wahl ordentlich zum Präsidenten gewählt (ich war vor Ort ;-) – privat, nicht als OSCE-Beobachter jedoch gab es in dem Wahllokal in der Nähe tatsächlich welche).

Bevor jetzt das Argument mit der «AHA, DIE OSCE IST ALSO NOTWENDIG!» kommt: Die OSCE beobachtet auch deutsche Wahlen, dies ist ein Standardverfahren. Übrigens hat die Ukraine die OSCE eingeladen hierfür. Etwas, dass Russland seit ewiger Zeit ablehnt und lieber eigene Wahlbeobachter stellt, auch in den von Russland besetzten Gebieten.
Ja, auch hier gab es, wie bei jeder Wahl, Sachen zu beanstanden und Mängel, aber diese werden in der Ukraine angegangen im Gegensatz zur russischen Föderation.

Den Report gibt es hier nachzulesen: www.osce.org

= = =

− «Das russische Volk verhungern zu lassen und ein hysterisches Russen Bashing zu betreiben, ist falsch und bringt uns keinen Zentimeter weiter.»

⇒ Das russische Volk hungert auch ohne diesen Krieg, Ausflüge außerhalb Moskaus oder St. Petersburg würden ihnen zeigen, dass im modernen Russland abseits der Großstädte immer noch ein sehr einfaches Leben geführt wird, gerade in den östlichen Gebieten. Diese wurden jedoch nicht durch Sanktionen hervorgerufen, sondern allein durch die Regierung Putin, da hier Gelder statt für Infrastruktur oder Bildung hauptsächlich für Militär, Villen und Yachten ausgegeben wurde. Überraschenderweise genau dies, was Kritiker der Ukraine gerne vorwerfen. Da wir aber gerade beim Thema hungern sind, ich vermisse den Hinweis darauf, dass Russland mit der Vernichtung von riesigen Mengen Agrarprodukte in der Ukraine und der Blockierung der Seehäfen zu 100 Prozent mitverantwortlich ist für die drohende Hungerkatastrophe in Afrika.

Übrigens gäbe es einen sehr leichten Weg für Putin, die Sanktionen und das angebliche Hungern sowie das «Russen Bashing» der Bevölkerung zu beenden. Einfach seine Soldaten zurückziehen und die Ukraine verlassen. Dann kann man über die Aufhebung der Sanktionen und weiteres Vorgehen reden.

Da Frau Dr. Hannewald mich und andere Befürworter der Ukraine-Integration, der Sanktionen und Waffenlieferung als intellektuell sehr unterbelichtet bezeichnet, erfreut mich zwar nicht, ist jedoch nicht das Schlimmste, was aus der «Intellektuellen»-Ecke Deutschlands kommt.

Anschließend folgen im Leserbrief ziemlich krude Theorien ohne Beweise um dann mit: «Wir, das Volk, können uns gegen so viel Dummheit wehren. Wer dieses nicht tut, trägt die Verantwortung für das was da kommt und die Verelendung von vielen Millionen Deutschen über die Zeit. Diesem Wahnsinn einfach nur zuzuschauen, ist unverantwortlich» zu Enden.

⇒ Ruft Frau Dr. Hannewald hier wirklich dazu auf, sich gegen die Regierung und die EU zu wehren? Evtl. sogar zum Sturz der Regierung? Evtl. weiß Frau Dr. Hannewald ja sogar, dass dies strafrechtlich verfolgt werden kann? www.gesetze-im-internet.de

= = =

Zum Schluss noch meine private Meinung: Ich finde es eine Unverschämtheit den Opfern, Flüchtlingen und den Helfern gegenüber solche Behauptungen aufzustellen. Es ist eine Ohrfeige für jeden, der unter unrechtmäßigen Kriegen leidet (ob in Syrien, Georgien oder der Ukraine), und grenzt an plumpen Populismus. Ich wünschte Fr. Dr. Hannewald möge sich im nächsten Leserbrief öffentlich entschuldigen und aktiv bei der Flüchtlingshilfe werden, evtl. hilft dies beim Erweitern mancher festgefahrenen Denkweisen. Ebenso wie ich ihr das Lesen der Bücher von Herr Timothy Snyder, Andreas Kappeler, Alice Bota, Simone Brunner, Franziska Davies und die Artikel von der Pavel Lokshin und Denis Trubetskoy auch die Podcasts mancher Autoren empfehle. Und zu guter Letzt würde ich auch eine Reise in die Ukraine empfehlen, inklusive Kontakt zur Bevölkerung.

Auch wenn die Meinungsfreiheit in Deutschland ein hohes Gut ist, welches ich sehr hochhalte, sind die Leserbriefe von Frau Dr. Hannewald sehr nahe an der organisierten Desinformation, sowohl von der Häufigkeit wie auch vom Inhalt. Ich würde die goodnews4 Redaktion daher bitten, aus Rücksicht zu ukrainischen und hilfsbereiten russischen Mitbürgern die Veröffentlichung weitere Leserbriefe von Fr Dr. Hannewald zu prüfen.

Ebenfalls kann ich allen Interessierten diese Webseiten ans Herz legen:
russlandverstehen.eu
ukraineverstehen.de
www.stopfake.org (rechts gibt es die Sprachauswahl)
www.dekoder.org

Jan Siegl
Baden-Baden


Wenn Sie auch einen Leserbrief an die Redaktion senden möchten, nutzen Sie bitte diese E-Mail-Adresse: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

In Ausnahmefällen veröffentlicht goodnews4.de Leserbriefe auch unter einem Pseudonym. Die tatsächliche Identität des Verfassers ist goodnews4.de in jedem Fall bekannt.

PDF «Spielregeln» für Leserbriefe an goodnews4.de


Zurück zur Startseite und zu den weiteren aktuellen Meldungen.