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Kommentar von Christian Frietsch

Rathaus rechtfertigt Schweigen zum 9. November – „Gedenkveranstaltung zur Reichspogromnacht fand am 10. November im kleinsten Kreis statt“

Rathaus rechtfertigt Schweigen zum 9. November – „Gedenkveranstaltung zur Reichspogromnacht fand am 10. November im kleinsten Kreis statt“
Vlnr: Rabbiner Surovtsev, Dmitry Ginzburg, OB Margret Mergen, Barbara Hoffs, Dmitri Kokotov und Pfarrer Hans-Martin Ahr. Foto: Petra Heuber-Sänger

Bild Christian Frietsch Kommentar von Christian Frietsch
12.11.2020, 00:00 Uhr



Baden-Baden Aus welchem Grund Oberbürgermeisterin Margret Mergen sich am Montag, dem 9. November, bei der öffentlichen Sitzung des Gemeinderates anlässlich des Gedenktags nicht an die Öffentlichkeit wandte, bleibt ihr Geheimnis.

Gemeinderäte und die Medien waren als Multiplikatoren vor Ort und hörten kein Wort zur Pogromnacht am 9. November 1938, die bis in den nächsten Tag den, 10. November, hineindauerte, wie dies auch in Baden-Baden der Fall war.

Eine schlechte Begründung oder gar Ausrede für das Schweigen im Baden-Badener Rathaus ist der Hinweis auf diese Chronologie der Ereignisse im November 1938. Mehr drängt sich der Verdacht auf, dass die peinliche Absage aus dem Rathaus an die Baden-Badener Juden bei der Suche nach einem Bauplatz für eine neue Synagoge das Thema unbequem macht. goodnews4.de berichtete. Ebenso der Schulterschluss der Rathausführung mit den Eigentümern des Grundstücks, auf dem die 1938 niedergebrannte Synagoge stand.

Eine größere Öffentlichkeit konnte eine gemeinsame Veranstaltung der jüdischen Gemeinde und der Stadt am Dienstag wegen der Corona-Regeln jedenfalls nicht erreichen, was durch eine Erklärung über die Medien und andere mediale Wege leicht möglich gewesen wäre. «Die diesjährige Gedenkveranstaltung zur Reichspogromnacht fand am 10. November im kleinsten Kreis statt», heißt es nun in einer Erklärung der Stadt. Das beantwortet nicht die Frage, weshalb sich doe Oberbürgermeisterin nicht an die größere Öffentlichkeit der Einwohner und Bürger der Stadt wandte. Eine bessere Gelegenheit als der 9. November bei der öffentlichen Sitzung des Hauptausschusses des Gemeinderats konnte es gar nicht geben. Auch die jüdische Gemeinde ist schlecht beraten, wenn sie sich als Zielgruppe bei ihrer Öffentlichkeitsarbeit mit einer kleinen Auswahl von Kommunalpolitikern, Religionsvertretern und Vereinsfunktionären zufriedengibt. Ein «Closed Shop» von Politikenr und Funktionären ist der falsche Weg bei diesem Thema.

Die Erklärung der Stadt Baden-Baden im Wortlaut:

Die diesjährige Gedenkveranstaltung zur Reichspogromnacht fand am 10. November im kleinsten Kreis statt. Eine größere Zahl an Gästen war Corona-bedingt nicht möglich. Diese Veranstaltung wird seit vielen Jahren gemeinsam getragen von der Stadt Baden-Baden, der Israelitischen Kultusgemeinde, der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen sowie der Deutsch-Israelischen Gesellschaft. Das Gedenken ist den gemeinsamen Veranstaltern so wichtig, dass man keinesfalls ganz absagen wollte und sich deshalb für eine Kranzniederlegung mit kurzen Grußworten im engsten Teilnehmerkreis entschlossen hat.

Dmitri Kokotov umrahmte mit seinem einfühlsamen Spiel auf der Klarinette das Gedenken mit «Vocalise» von Sergej Rachmaninoff und der Filmmusik von «Schindlers Liste». Oberbürgermeisterin Margret Mergen begrüßte die Anwesenden und betonte, wie wichtig es eigentlich wäre, die Kernbotschaften des heutigen Gedenkens in die ganze Breite der Gesellschaft zu tragen. Sie erinnerte in ihrem Grußwort an die Gräueltaten, die vor 82 Jahren auch in Baden-Baden stattgefunden haben. Umso wichtiger sei es, dass «wir hier vor Ort das friedliche Miteinander verschiedener Religionen und Kulturen pflegen und es sehr schätzen, dass jüdisches Leben in Baden-Baden eine feste Größe ist», so Mergen.

Der Vorsitzende der Israelitischen Kultusgemeinde, Dmitry Ginzburg, betonte in seinem Grußwort die Bedeutung, gerade auch Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu zeigen und zu erklären, was damals passiert ist. «Denn diese Generation hat die Aufgabe, unsere Geschichte nicht zu vergessen.» Barbara Hoffs, Vorsitzende der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, sprach über Antisemitismus heute und zitierte dabei den Psychologen und Autor Ahmad Mansour: «Wo immer jüdische Menschen aufgrund ihres Jüdisch-Seins angegriffen werden, ist das ein Symptom der Entgleisung einer Gesellschaft, einer latenten bis offenen Radikalisierung!» Pfarrer Hans-Martin Ahr sprach für die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen und stellte die Frage «Warum haben die Kirchen geschwiegen? Als Christen haben wir versagt, denn Antisemitismus und christlicher Glaube sind unvereinbar.» Er beendete sein Grußwort mit einem Gebet.

Zum Abschluss trug Rabbiner Surovtsev den Psalm 130 auf Hebräisch vor und erinnerte an Arthur Flehinger, der den Holocaust überlebte und einen umfassenden Bericht über die Geschehnisse am 10. November 1938 in Baden-Baden hinterließ. Ihm zu Gedenken sprach Rabbiner Surovtsev einen Trauerpsalm. Gemeinsam wurde sowohl ein Kranz der Israelitischen Kultusgemeinde und der Stadt Baden-Baden am Gedenkstein vor der Alten Polizeidirektion niedergelegt.

Ein Videofilm mit den Kernbotschaften der einzelnen Redner sowie alle Grußworte in vollständigem Wortlaut befinden sich ab Donnerstag, 12. November, auf der Homepage der Stadt Baden-Baden unter www.baden-baden.de/buergerservice

Hinweis in eigener Sache:
Immer wieder taucht die Frage auf, warum in Baden-Baden das Gedenken anlässlich der Reichspogromnacht nicht am 9. November, sondern erst am 10. November stattfindet. Tatsächlich fand in Baden-Baden die Reichspogromnacht erst am 10. November statt – wie in manch anderen Städten auch.


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