Gegenentwurf zum klassischen Ballett

Nederlands Dans Theater mit vier Tanz-Stücken im Festspielhaus Baden-Baden - „Oh, welch Dunkel hier“! - Publikumsreaktion war unterschiedlich

Nederlands Dans Theater mit vier Tanz-Stücken im Festspielhaus Baden-Baden - „Oh, welch Dunkel hier“! - Publikumsreaktion war unterschiedlich
"The Statement". Foto: Rahi Revzani

Baden-Baden, 18.06.2018, Kommentar: Inga Dönges Das Nederlands Dans Theater, NDT, gastierte vor zwei Jahren das letzte Mal im Festspielhaus Baden-Baden. So erwartete man neugierig gutes und weiterentwickeltes Tanztheater, das sich damals nach dem Wechsel in der Leitung ankündigte.

Gegründet wurde das NDT 1959 als Gegenentwurf zum klassischen Ballett des 19. und 20. Jahrhunderts. Jetzt bilden 28 Tänzer/innen − die Männer in großer Überzahl − das Ensemble. Sie sind alle im klassischen Tanz bühnenreif geschult, wie es schon 1981 Rudolf Nurejew (1938 - 1993) anerkennend für beide Stilrichtungen sagte: «Es gibt einen ständigen Fluss, einen Austausch zwischen Klassik und Moderne…. Für mich ist die Kenntnis der Bewegungstechnik des Modern Dance unabdingbar für ein intensives Begreifen der klassischen Tradition, und natürlich ist es umgekehrt ebenso.»

An diesem Abend standen vier Stücke auf dem Programm − alle mit der Musik zeitgenössischer Komponisten. Ballette sich «sichtbar gemachte Musik», so George Balanchine. Das Programmheft gab umfangreiche personelle Informationen: beginnend mit dem künstlerischen Leiter Paul Lightfoot, der künstlerischen Beraterin Sol León, der assoziierten Choreographen Chrystal Pite und Marco Goecke und anderer mehr – insgesamt 9 Positionen. Angesichts dieses «Wasserkopfs» fragte man sich schon, ob überhaupt noch jemand tanzte. Die 28 Tänzer/innen passten dann in alphabetischer Reihenfolge gerade noch auf das Ende der Seite.

Sie alle verstehen sich als EIN Ensemble, ohne Hierarchie von Solotänzer/innen und Corps de ballet. Ob das gut ist, darf bezweifelt werden, denn der Zuschauer wüsste schon gerne, welchen tänzerisch exzellenten Solisten er auf der Bühne sieht! Diese Ideologie der Truppe wird vom Licht, also dem sogenannten «Lightdesign» noch heftig unterstrichen. Die Bühne ist bei drei der vier Stücke im Großen und Ganzen stockdunkel, selbst der Vollmond des ersten Bühnenbildes zu «Shut eye» bringt keine Helligkeit in die Finsternis.

Bei «Shut Eye» bleiben Choreographie und Bühne von Sol León und Paul Lightfoot schemenhaft. Man tanzt quasi eine «contradictio in adjecto»: von der Gürtellinie abwärts klassisch mit hervorragenden Spitzen, Sprüngen, Pirouetten, alles was das klassische Ballett zu bieten hat. Aber der nackte Oberkörper der Männer bewegt sich im längst vergangenen Stil von William Forsythe und Youri Vamos, die sich in den vergangenen Jahren weiterentwickelt hatten. Der Zuschauer sah keine Geschichte, sondern konnte frei assoziieren − wie beim Psychiater. Eine Art Amphore war das Bild an der Bühnenrückwand. Wenigstens sie war weiß und hell. Nur, insgesamt 45 Minuten waren für die «ewige Wiederkehr des Gleichen» zu viel.

Das zweite Stück «Woke Up Blind», choreographiert von Marco Goecke, wurde nur von Männern, respektive von Frauen − die als solche nicht erkenntlich waren − getanzt. Alle in roten Pluderhosen, die Männer mit nacktem Oberkörper und das zu zwei amerikanischen «Love-Songs». Eine Aussage dazu war nicht erkennbar − es war so wie «l’art pour l’art». Die Publikumsreaktion war unterschiedlich: großer Beifall einer Gruppe, ansonsten höflich und mancher ging bereits in einer der beiden Pausen.

Dann wurde es allerdings spannend und hatte Bezug auf unsere heutige (politische) Zeit. «The Statement», choreographiert von Chrystal Pike, Musik komponiert von Owen Belton für das NDT. Um dem Ballett erhöhte Aufmerksamkeit und Aktualität zu sichern, wurden Konfliktsituationen und politische Probleme dargestellt. Auf der Bühne: lediglich ein großer Tisch, wie wir ihn von Konferenzen, aber auch seit Kurt Joos, Maurice Bejart u.a. kennen. Es war die politische Diskussion, die sich steigerte, aggressiver wurde und letztlich den letzten Tänzer dazu brachte «Okay» zu sagen und ihn damit quasi «über den Tisch zu ziehen». Das war modernes Tanztheater mit Worten, so wie es früher das NDT III aufführte mit seinen «älteren» Tänzern, die über hohe Ausdruckskraft und Intensität verfügten. Leider gibt es diesen Teil der Truppe nicht mehr.

Das vierte Stück hieß «Singulière Odyssée&rauqo;, wieder choreographiert von Sol León und Paul Lightfoot, Musik von Max Richter (1966), «Exiles». Die Komposition war recht eintönig. Das Klavier führte mit immer gleichen Akkorden. Auch beim Tanz gab es keine dramaturgische Entwicklung, denn bei einer «Odyssée» erwartet man Höhen und Tiefen bei der Irrfahrt des Helden. Dazu kommt, dass die Musik den ganzen Abend vom «Band», beziehungsweise vom Computer gespielt wird. Das Ganze bleibt anonym und mechanisch, so ganz ohne Orchester und einen Dirigenten, der natürlich nicht nur die Partitur, sondern auch die Choreographie des Balletts kennen muss.

Insgesamt sehnt man sich nach diesem Abend nach der «alten» Zeit mit Hans van Manem (* 1932) und Jiri Kylián (*1947) zurück. Der Anfang der «neuen» Zeit mit dem Briten Paul Lightfoot und der Spanierin Sol León war verheißungsvoll, der Ballettabend im Festspielhaus 2016 ein Genuss und Erfolg. Irgendwo ist jetzt Stillstand, ja Rückschritt eingetreten. Es gibt nichts wirklich Neues zu sehen, zu hören oder zu erfahren. Es fehlt der Aufbau von Spannungen, so zum Beispiel bei den Pas de deux’s, die zumindest Empathie der Tanzenden darstellen müssten, selbst wenn sie letztendlich auseinander gehen.

Es wird allgemein langweilig phrasiert, zu viele Bewegungsabläufe werden − der Musik folgend − wiederholt. Es ist schade um die Tänzer, die oftmals nur Arme mit geknickt-beweglichen Händen und Fingern zeigen dürfen. Sie können mehr als die Choreographen ihnen erlauben − das hat man früher schon gesehen.

Hoffentlich gibt es mit den nächsten Stücken und Uraufführungen einen neuen Anfang, dem dann wieder ein Zauber innewohnen möge. Denn verzichten möchte man auf das NDT nicht, das grundsätzlich eine hervorragende Compagnie ist.


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