Leserbrief

Leserbrief „Meine Meinung“ – „Ist es die Beratungsresistenz, die bei den Altparteien in Fleisch und Blut übergegangen ist?“

Baden-Baden, 29.05.2019, Leserbrief In einem Leserbrief an die Redaktion nimmt goodnews4-Leser Oliver Haungs Stellung zu dem goodnews4-Bericht Baden-Badener OB Mergen kommentiert Ausgang der Europawahl − «Das ist schon ein dramatischer Wechsel von Rot nach Grün» − Wahlbeteiligung Kommunalwahl hochgeschnellt auf 55,97 Prozent.

Nach der EU-Wahl steht eines fest, die Bipolarität der Parteienlandschaft in der Bundesrepublik Deutschland wurde am vergangenen Sonntag definitiv beendet und zu Grabe getragen, die noch zumindest größtenteils 2014 bei der EU-Wahl gegolten hatte. Damals beherrschten lediglich zwei Farben die Landkreise der Landkarten, Schwarz und Rot. Heuer gleicht die Karte einer anderen Struktur. Es hat sich die Farbe Grün dazugesellt, die sich vom hohen Norden mehr und mehr gen Süden vorgearbeitet hat. Und schließlich kommt aus dem Osten ein nicht mehr zu übersehendes durchgehendes blaues Farbfeld, welches der AfD zuzuschreiben ist.

Als Wähler stellt man sich die Frage, was binnen fünf Jahren zu einer derart radikalen Farbveränderung geführt hat. Ist es die Beratungsresistenz, die zuweilen bei den Altparteien in Fleisch und Blut übergegangen ist? Ist es die Unfähigkeit, sich auf neue schwerwiegende Herausforderungen einzustellen? Ist es das verloren gegangene offene Ohr und Gefühl für die Belange der Bürgerschaft, der man meint konsequenzenlos mit Ignoranz begegnen zu können? Ist es die verloren gegangene Sensibilität, dass man nicht alles machen kann, selbst wenn es rechtlich erlaubt ist, ohne sich massiven Zorn zuzuziehen?

Ohne den Klimawandel zur Ersatzreligion hochstilisieren zu wollen, muss man dennoch anerkennen, dass er viele Menschen zu tiefst bewegt und an den Fundamenten deren Seins rüttelt. Dieser Frage eine zu minderwertige Priorität beizumessen kann, wie wir soeben erfahren haben, parteipolitisch tödlich sein und Parteien an den Abgrund zur Bedeutungslosigkeit manövrieren.

Alte Vorgehensweisen, wie Aussitzen, Totschweigen, Beschwichtigen oder Ignorieren, sind nicht mehr länger adäquate Instrumente einer verantwortungsvollen Tagespolitik, sei es auf kommunaler Ebene, im Landkreis, Land oder Bund. Die Tagespolitik hält vielfach Herausforderungen bereit, wo die politischen Wettbewerber beweisen können, dass sie die Botschaft des Wählers verstanden haben, sei es bei einem Wandel der Mobilität vor allem im kommunalen Bereich, beim Beseitigen des Wohnungsmangels, den Herausforderungen der Energiewende, der Digitalisierung, der künstlichen Intelligenz, der Kriminalitätsbekämpfung, der Migration und Integration, des Gesundheitsschutzes vor schlechter Luft und Lärm und nicht zuletzt des Umweltschutzes verbunden mit einer nachhaltigen Landwirtschaft mit Artenschutz.

Auf all diese Dinge will die Öffentlichkeit schlüssige Antworten, sonst geht sie bei nächster Gelegenheit von der Stange. Beispielsweise der Einsatz von Glyphosat in der Landwirtschaft gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung in einem Husarenstreich des ehemaligen Bundeslandwirtschaftsministers bei der Abstimmung in Brüssel 2018, gegen den Willen der eigenen Regierung, spricht Bände über die an den Tag gelegte Arroganz. Dass ein Massensterben an Bienen und anderer wichtiger Insekten durch skrupellosen Chemieeinsatz und Monokulturen die Bevölkerung in Unruhe und Aufruhr versetzt, dass dadurch ein Aussterben vieler Vogelarten bedingt ist, diese Erkenntnis bzw. Wahrnehmung fehlte bis zuletzt vollkommen auf den Radarschirmen der beiden ehemals großen Volksparteien. Somit konnte man auch getrost argumentieren, dass es keinen Handlungsbedarf gibt. Ebenso das vollkommen unsensible Abholzenwollen des Hambacher Forstes für den Kohleabbau in NRW. Das mag vielleicht rechtlich unangreifbar sein, aber ethisch und ökologisch ist es unbegreifbar dämlich, so etwas ohne Rücksicht auf Verluste meinen durchpeitschen zu müssen, koste es was es wolle. Oder der Dieselskandal, wo die Politik ihrer Kontrollpflicht nicht nachkam wegen ihrer viel zu großen Nähe zur Automobilwirtschaft und nach dem Schlamassel die Bürger mit den Vermögensschäden im Regen stehen ließ.

Solche Handlungsweisen verbieten sich einer seriösen Politik. Da braucht sich nach dem letzten Wahlsonntag niemand mehr wundern, dass es beim Wahlergebnis Ohrfeigen hagelte. Wer Nachhaltigkeit nicht mehr in seinem Wahlprogramm hat und diese nicht glaubhaft lebt, braucht bei Wahlen gar nicht mehr anzutreten. Ein «weiter so wie bisher» ist heute der Freifahrtschein zu politischem Selbstmord.

Oliver Haungs
Muggensturm


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