Gastkommentar
Baden-Baden, der Augustaplatz und da, wo man eher nicht flaniert und die Bussi-Bussis trifft – Gastkommentar von Helmut Höfele

Gastkommentar von Helmut Höfele
02.11.2021, 00:00 Uhr
Baden-Baden In unregelmäßigen Abständen veröffentlicht goodnews4.de Beiträge von Gastkommentatoren. Zum engeren Kreis gehören der Baden-Badener Bestsellerautor Franz Alt und Thomas Bippes, Professor für Medien- und Kommunikationsmanagement an der SRH Hochschule Heidelberg, der sich insbesondere den Themen der Digitalisierung, IT und Künstlichen Intelligenz zuwendet. Helmut Höfele ist im Ooswinkel in Baden-Baden geboren und aufgewachsen. Zuletzt war unser Gastkommentator Erster Polizeihauptkommissar und Revierführer in Titisee-Neustadt.
Kommentar: Helmut Höfele Meine Heimatstadt. Entsetzt lese ich die Zeitungen, eine Kriminalitätshochburg. Bahnhofsviertel mit Drogenumschlag, Rotlichtviertel mit offener Prostitution in Kindergartennähe, Obdachlose und Verwahrloste im Stadtgebiet, umherirrende Jugendliche ohne Ansprechpartner und Anlaufstellen.
Da muss doch was passiert sein, weshalb sonst würde man/frau nach Streetworker rufen? Die Stellenbeschreibung eines Streetworkenden liest sich übrigens so: «sie gehen durch die Straßen und sind am Puls der Zeit. Sie treffen Obdachlose, Prostituierte und Drogensüchtige, unterstützen sie bei der Wohnungssuche und Behördengänge und beraten über Sozialleistungen. Sie verteilen Kaffee, Nahrung und Kleidung an Bedürftige. Im Winter helfen sie mit Decken und Wärmebussen.» (Quelle: soziales Studieren-der Wegweiser zu Deinem Studium).
Da muss es ja schlimm bestellt sein um die Stadt, die erst kürzlich als Teil der «Great Spa Towns of Europe» Weltkulturerbe wurde. Und jetzt das. Was war passiert?
An einem Samstagnachmittag wurde ein älterer Mann beraubt, konnte noch mit seinem Auto aus der Tiefgarage fahren und brach dann in einem Gespräch mit einem Busfahrer tot zusammen. Um es mal klar festzuhalten: das ist tragisch, ein Verbrechen, Aufklärung tut Not.
Was nicht Not tut ist der reflexartige Ruf nach Streetworker. Ein Begriff, den es so im Englischen übrigens gar nicht gibt. Es gibt im Deutschen natürlich auch eine Streetworkerin, aber der Engländer kennt keine weibliche Form dieses Berufsbildes. (nix mit der, die das).
Und ob es tatsächlich nicht populistisch ist, wenn in einer Gemeinderatsitzung erklärt wird, man habe schon öfter auf die Situation aufmerksam gemacht, die Polizeireform sei indirekt schuld am Tod dieses Mannes und die Polizei kommt eh nicht, wie Bürger ihm erklärten, wage ich stark zu bezweifeln. Die Polizeireform war vor 10 Jahren und Schuld am Tod des alten Mannes ist der Täter und der Schuldanteil muss erst noch im Detail ermittelt werden. Mal gleich einen rausgehauen, immer gut, ich weiß, das machen Politiker so. Müssen tun sie es nicht. Auf welche Situation hat er aufmerksam gemacht? Auf die Gruppe die tagsüber am Augustaplatz herumlungert? Und wenn ich das Fahndungsbild anschaue: da ist der gesuchte Mann eher mal nicht bei den Lungerern dabei. Für mich sieht er eher aus wie ein dasdarfichnichtschreibendasdarfichnichtschreibendasdarfichnichtschreiben aus dem wartemalwogehtnochmaldiesonneauf.
Man könnte denken, bald seien Gemeinderatswahlen (grins). Also höchste Zeit für Forderungen und markante Sprüche, mal kurz die law and order Karte gezogen, wenn es schon mal passt, ansonsten gerne weltoffen, bunt, divers. Ich fürchte, man kann nicht alles zur gleichen Zeit haben.
Die wirklichen Probleme finden sich woanders. Also nicht in dem Baden-Baden rund um das Zentrum der Macht, sondern da, wo man eher nicht flaniert und die Bussi-Bussis* trifft. Sondern in den leicht angeranzten Außenbezirken, wo ich gerne mal einen Stadtrat, gerne auch Stadträtin, ab 22.00 Uhr alleine flanieren sehen möchte. Ich schreibe von der AfD Hochburg «Am Briegelacker» und dem Umkreis. Ich habe im Netz ein Video von 2010 gefunden, in dem sich alle lobpreisten wie toll die 1.100 Einwohner aus 20 Ländern vorbildlich integriert wurden. Es wird von Vorbildcharakter gesprochen. Und tatsächlich hier wurde viel gemacht. Also was stimmt da nicht? Der dort wohnende deutsche Michel ist verbohrt, verstrahlt und strunzdoof und wählt AfD? Zugegeben, das stimmt wohl auch teilweise. Oder wird von Vereinen, Organisationen und Behörden alles rosarot aufgehübscht, was mit Integration zu hat?
Auf geht’s Gemeinderat! Nicht nur Bürgerbefragung wegen Augustaplatz, mal eine Bürgerbefragung in der AfD-Hochburg. Da wohnen nicht nur Altnazis und Altnazinnen (gibt es da eine weibliche Form?), die haben früher SPD und CDU gewählt. Sie wurden auch nicht in einer Bibelstunde radikalisiert. Aber wissen sie, was ich befürchte? Der Gemeinderat weiß wo die Probleme liegen, kann aber will sie nicht klar benennen. Da ist es im Kleinen wie im Großen. Aber ich lasse mich gerne eines Besseren belehren. Und wenn schon. Bei der Fieser-Brücke wurde und wird doch auch stundenlang, ach wochenlang, beraten, besichtigt, beschwichtigt, bürgerbefragt, beschildert, geschrieben und posaunt. Und das wegen ein paar Quadratmetern. Aber die liegen eben im innersten Kern der Metropole. Da soll wie in früheren Zeiten gelustwandelt und promeniert werden. Gekrönte und Ungekrönte, Adelige und Unadelige, Politiker und Politikerinnen, Oligarchen und Gefolge, Prominenz und solcher hoher Provenienz sollen hier jauchzend und staunend stehen und den Odem der Weltstadt einsaugen. Da braucht es schon ein bisschen Vorlauf.
Aber nun: blast die Hörner und wirbelt die Trommeln. Die Rheinstraße wird grundsaniert, aufgehübscht und zu einer Wohlfühlmeile mit Shoppingangeboten umgestylt. Verkehrsberuhigter Alleecharakter, Marmorbrunnen und Duftzonen, Verweilbereiche für Jung und Alt und irgendwo dazwischen. Nun mal nicht gleich übertreiben. Nur von der Großen bis zur Kleinen Dollenstraße. 1,5 Millionen werden in die behördliche Hand genommen und der Löwenanteil soll in die unterirdische Infrastruktur gesteckt werden. Wenn das die alten Römer wüssten. Und oben? Ein bisschen Schicki und ein bisschen Micki, hier ein Bäumchen, dort ein Inselchen und ein neues Bänkchen? Und viel weiße Farbe für die Bushaltestellen nicht vergessen. Die Verwaltung war sicher in engem Dialog mit den Anwohnern vom Hardtbergbad bis zur Fürstenberger Allee, von der Dreieichenkapelle bis zur Bernharduskirche. Aber was fehlt denn der Rheinstraße? War doch alles da.
Die Dreieichenkapelle, von den Busfahrern in meiner frühen Kindheit auf der Rückfahrt von den Großeltern in Oos zusammen mit meinen Eltern zu später Stunde gerne mal als Dreileichenkapelle ausgerufen (und ja das erzeugte merkwürdige Bilder in meinem Kinderhirn) und gleich daneben ein kleines Elektrogeschäft. Ein Kfz-Betrieb und gegenüber der schlimmste Laden überhaupt. Die Bäckerei Schetter. Warum schlimm? Weil die den weltbesten Kuchen hatten. Wenn sich im Elternhaus sonntags Besuch angekündigt hatte, wurde ich meist mit dem Auftrag «geh mal zum Schetter und hol ein paar Stückchen Kuchen - was für? – egal» für lange!!! Zeit aus dem Haus geschickt. Dort angekommen standen meist fünf bis zehn Leute vor der Tür und genauso viele im Geschäft. Groß war die Vielfalt, unentschlossen der/die KuchenliebhaberIn. Viele Fragen nach der Zusammensetzung diverser Kuchen verzögerte den allgemeinen Kaufprozess, dann wurde hübsch eingewickelt, bezahlt «moment ich hab‘ ‘s glaub passend, ach geben sie mir doch noch eine Schwarzwälder». Verschwitzt und einigermaßen traumatisiert wurde ich dann zu Hause mit den Worten «gabs keinen Käsekuchen mehr?» empfangen.
Apotheke, Feinkostladen mit jedem Tag frische Waren vor dem Geschäft, Betten und Kurzwaren, Bäckerei, Postfiliale, Fürstenberger Hof, gegenüber Foto Rill, der Generationen in seinem Studio und bei der Einschulung fotografiert hat, der Wienerwald mit Biergarten für besondere Ereignisse und Hunger nach halbem Hähnchen mit Pommes. Volksbank auf der anderen Seite, eine Tankstelle mit Gemüsesortiment im hinteren Teil, Friseursalon Hirtz, der unvergessene Coach der C und B-Jugend des SC Baden-Baden auf dem Walter-Hermann-Sportplatz (nach dem Training oder Spiel: «ihr müsst tuschen (sic) Jungs, immer tuschen»). Tabak- und Zeitschriftenladen, das Westend mit kleinem Biergarten, das Kino Favorit in der Großen Dollenstraße und die Bernharduskirche. Straßen links und rechts der Rheinstraße, hoch zu den besser Betuchten oben auf dem Hardberg, nach unten zur Fürstenberger Allee.
Gegenwart. Jetzt. Anstatt Bürgerdialog, diagonale Plakate in einem ehemaligen Ladenlokal. Wegen der Pandemie. Für was die alles herhalten muss. Hätte man noch ein paar Wochen abgewartet, wäre ein direkter Bürgerdialog möglich gewesen. Von den sieben ausgestellten Plakaten sind genau zwei Plakate wichtig. Geschichtliche Entwicklung, nett, aber für die Zukunft eher nicht so relevant. Aber sonst wäre die «Ausstellung» gar etwas arg mickerig geworden. Im Internet gelingt es dann auch nicht, auf der Website der Stadt die Plakate zu zoomen, damit man wenigstens den Text lesen kann. Das Erklärungsvideo ist recht ausführlich, wirft aber Fragen auf. Und wie oft wurde es abgerufen? Die Rheinstraße und Umgebung – ein attraktiver Stadtteil? Echt? Und haben das tatsächliche alle begriffen, was die Stadt vorhat? Auch die Anwohner, welche der deutschen Sprache nicht so ganz mächtig sind? Ich bezweifle es. Vielleicht steht irgendwo wie viele BürgerInnen mitgemacht haben, in der Relation der dortigen zahlreichen Bewohner und welche Vorschläge eingegangen sind. Kommt sicher demnächst. Und ganz fesch finde ich, dass die Verwaltung den BürgerInnen ganz locker zutraut, Straßenbaupläne zu lesen und gegeneinander abzuwägen. Und was ist ein weitgehend autofreier Begegnungsraum? Google sagt dazu nichts. Aber eine schön kreierte Worthülse ist das allemal. Der Augustaplatz wäre dann ein weitgehend kriminalitätsfreier Begegnungsraum. Problem gelöst. Konsens. Darauf kann man sich doch verständigen. Kostet auch nichts und hört sich gut an. Ich schweife ab. Und wie im Video gewünscht, habe ich mir ein Bild gemacht. Natürlich nicht an der Umfrage teilgenommen und mit Frau Demers-Höfele bin ich weder verwandt noch verschwägert.
Also gehe ich die Rheinstraße in umgekehrter Richtung von der Bernharduskirche zur Dreiechenkapelle. Asiamarkt, Packstation, Schönheitssalon, Bernhardusapotheke, Thaimassage, Hemingsways. Das klingt ja schon ganz schön nach weiter Welt. Aber weshalb gibt es in bald jeder Stadt ein Hemingways? Was hat der Nobelpreisträger, Kriegsreporter und Suffkopf mit Baden-Baden zu tun? Ich lese, er gab dem Lebensüberdruss der Lost Generation einen Ausdruck. Gut, dann passt es wieder irgendwie. Aber schöner wäre doch gewesen, die Kneipe nach dem ehemaligen Bürgermeister Fieser zu benennen, dem gehört schließlich schon eine Brücke und dem türkischen Präsidenten Erdogan, der Besitzer der Hemingways ist schließlich ein Türke. Beide Namen vereint als Kneipennamen zum Zeichen deutsch/türkischer Verbundenheit. Man müsste nur aufpassen, dass die Reihenfolge der Namen keine Probleme bereitet. Ich gebe es zu, billiger Witz. Aber es wäre doch schön, wenn die Leute sagen, kommt, wir gehen zum….
Weiter auf der attraktiven Flaniermeile. Haarstudio, Inneneinrichtung, Nagelstudio im Sinne von Fingernägel. Pizzaexpress, Lebensmittel mit Lieferservice, Versicherung. Blumen-, Kaffeegeschäft, Wettanbieter. Türkisch/italienische Küche, Näh- und Modestudio, Nagelstudio. Pizza/Kebab, Sparkasse, geschlossene Bäckerei. Handyreparaturen, Geldüberweisungen, Augenoptiker, Barber-Shop, Spielcasino, Post, Fahrschule, Pizzaservice, Tattoostudio, Versicherung, Getränkemarkt, Boutique, Apotheke, Infocenter, Haarstudio, Anwälte, Tattoostudio, Kfz-Betrieb, Sushi zum Mitnehmen, Asia Bistro, Waxing und Beauty, Elektrogeschäft, Dreieichenkapelle. Unterwegs: viel Verkehr, ein paar versprengte RentnerInnen, Männer und Frauen mit Migrationshintergrund. Kinderwagen werden geschoben. Zeit: 15:00 Uhr.
Die Geschäfte folgen demnach der Bevölkerung. Man kann das auch umgekehrt im Citycentrum beobachten. Oder werden wir nächstes Jahr in der Rheinstraße Posh-Spice Girl Victoria Beckham begrüßen können? Eher nicht. Wahrscheinlich weil die Enten fehlen.
Aber stimmt das mit der Bevölkerung? Ein Blick auf einige Haustüren mit Klingelschilder und Briefkästen bestätigt es. Viele aufgeklebte Namen, stellenweise überklebt. Die Häuser zwar frisch verputzt, aber wer möchte beispielsweise schon an einer 4spurigen Straße plus Anliegerstraße wohnen?
Die Rheinstraße attraktiv? Pustekuchen. Apropos Pustekuchen. Die Bäckerei Schetter gibt es auch nicht mehr. Da steht jetzt ein sehr großes Bürogebäude mit Dienstleister. Kann die Stadt der Neuköllnisierung der Weststadt Einhalt gebieten und will man das überhaupt? Sehe ich zu schwarz? Übertreibe ich? Hoffentlich!
*Helmut Höfele spielt an auf das Buch «Die Bussi-Bussi-Gesellschaft im Baden-Badener Rathaus». Das Buch ist in der Buchhandlung Straß, bei Amazon und in der Baden-Badener Thalia-Filiale erhältlich.
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